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LAIRE/1119: Abschied vom BMI - Mediziner schlagen "besseren" Maßstab vor (SB)


Neue Studie - Body Mass Index ungeeignet zur Bestimmung von Krankheitsrisiko


Seit Jahren wird in den westlichen Wohlstandsregionen und darüber hinaus eine Diffamierungskampagne gegen beleibtere Menschen betrieben. Wer hierzulande nicht aussieht, als sei er frisch aus dem Modekatalog gehüpft, wird sozial stigmatisiert und ökonomisch diskriminiert. Flugreisen kommen Dicke teurer zu stehen als "normalgewichtige" Menschen, und von Krankenversicherungen werden sie geschnitten, weil sie angeblich dem Gesundheitssystem (als Plage) auf der Tasche liegen. Etwas gewichtigere Schülerinnen und Schüler leiden schwer - nicht an ihrem hohen Gewicht, sondern an der erbarmungslosen Häme, die ihnen entgegengebracht wird. Fernsehstars, insbesondere Frauen, die ein oder zwei Pfunde zunehmen, werden von den Paparazzi möglichst unvorteilhaft abgelichtet, um die Fotos anschließend mit höhnischen Kommentaren versehen zu veröffentlichen.

Wichtigster, vermeintlich objektiver Maßstab zur Feststellung, ob eine Person "zu" dick ist, ist der Body Mass Index (BMI). Bislang jedenfalls. Nun erklären Mediziner der Universität München, daß der BMI "für die Bewertung des Krankheitsrisikos durch Übergewicht keinerlei Aussagekraft besitzt", berichtete die Internetseite 1 A Krankenversicherung. [1]

Die Münchener Mediziner erklären sinngemäß, daß die sogenannten Experten früher das Maßband an der falschen Stelle angelegt haben. Anstatt es außen an den Körper von Kopf bis Fuß anzulegen, sollte es um Hüfte oder Bauch geschlungen werden.

So wie Äpfel und Birnen zusammen einen Kompott ergeben und beim BMI die Körperlänge mit dem Gewicht verrechnet wird, soll sich auch die neue Bemessungsgrundlage aus verschiedenen Faktoren zusammensetzen. Demnach ist ein dicker Hintern kein Problem, und dicke Oberschenkel sind ebenfalls noch okay, das Fett auf diesen beiden Körperpartien wird als "gut" bezeichnet. "Böse" hingegen ist das Fett, sobald es sich nur ein paar Zentimeter oberhalb der Hüften auf dem Bauch niederläßt. Nicht dicke Menschen, sondern Menschen mit viel "bösem" Fett seien krankheitsanfälliger, wird nun behauptet. Man müsse lediglich den Taillenumfang durch die Körpergröße teilen, das verschaffe Klarheit über die Krankheitsanfälligkeit. Welch ein (mathematisch begründeter) Glaubenssatz!

Aber nein, das wurde ja statistisch belegt, so heißt es. Bis zu acht Jahre lang hatten die Mediziner rund 11.000 Probanden beobachtet. Dabei legten sie ihr Maßband mal klassisch BMI-mäßig an die Körpergröße an, mal schlangen sie es zusätzlich um Hüfte und Taille. Demnach besteht statistisch gesehen ein höheres Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko, je höher der "WHtR" - der Quotient aus Taillenumfang und Körpergröße - ausfiel. Kaum Aussagekraft besaß das Verhältnis von Hüft- und Taillenumfang, und keinerlei statistischen Zusammenhang ließ sich zwischen Krankheitsanfälligkeit und BMI feststellen.

Wie bitte? Der BMI, diese axiomatische Größe aller Diätetiker und Gesundheitsapostel, die ihr Dogma der Enthaltsamkeit mit der unhinterfragbaren Einheit von "Gewicht geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat" letztbegründen, die Personen mit einem BMI über 30 an den Sündenpfahl binden und Abbitte schwören lassen, hat keine Relevanz hinsichtlich des Risikos für Herz-Kreislauferkrankungen?

Wirklich neu ist diese Erkenntnis nicht, aber selten wurde sie so einschränkungslos formuliert. Die Vermutung liegt nahe, daß die Mediziner von der Ludwig-Maximilians-Universität München ihr eigenes Körperbemessungssystem etablieren wollen. Aber ungeachtet dessen bleibt die statistische Aussage, daß BMI und Krankheitsrisiko keinerlei auffällige Korrelation zeigen. Stützt sich die Kampagne gegen Übergewicht auf eine Täuschung der Öffentlichkeit?

Auch das neue Verfahren wirkt überaus primitiv. Um Aussagen über sogenannte innere Vorgänge zu treffen werden äußerlich Zollstock und Schneidermaßband angelegt. Der WHtR stellt kein Gegenmodell zum BMI dar, sondern bildet dessen Fortsetzung. Somit würde mit seiner Verbreitung auch nicht die bislang vom BMI abgestützte gesellschaftliche Kampagne gegen sogenannte "Über"gewichtige - der Begriff enthält bereits den Bewertungsmaßstab - enden, sondern noch verstärken. Damit bieten sich die Mediziner als die gründlicheren Sachwalter einer in Zukunft noch schärfer geführten Kampagne gegen Dicke an, werden doch nach den Entwicklungsländern auch die Wohlstandsregionen mehr als zuvor den globalen Nahrungsmangel zu spüren bekommen. Dicke erfüllen eine wichtige Funktion als Feindbild (Sozialschmarotzer, Umweltverschmutzer, Verursacher des Klimawandels), so daß die systemischen Voraussetzungen des Mangels (Produktion von Verlusten) unhinterfragt bleiben.


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Anmerkungen:

[1] "Studie belegt: Body-Mass-Index ist veraltet", 1A Krankenversicherung, 3. März 2010
http://www.1a-krankenversicherung.org/nachrichten/20100303/7267/studie-belegt-body-mass-index-ist-veraltet/

3. März 2010