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LAIRE/1228: Welternährung - Kritik der Soil Association an Prognose (SB)


Wurde die Nahrungsprognose für 2050 zu hoch angesetzt?

Britische Ernährungsexperten hinterfragen Datengrundlage der Regierungspolitik


Die britische Soil Association bezeichnet es als eine "große, fette Lüge", daß verschiedentlich behauptet wird, die globale Nahrungsproduktion müsse bis 2050 gegenüber heute um 100 Prozent gesteigert werden. Die realistische Schätzung läge wohl eher bei 70 Prozent, heißt es in dem Bericht "Telling porkies - The big fat lie about doubling food production". [1] Der Unterschied wird deshalb als relevant angesehen, da die Hersteller von gentechnisch veränderten Pflanzen, wie auch die Agroindustrie insgesamt, mit den höheren Prozentzahlen zu begründen versuchen, warum ihre großmaßstäbliche landwirtschaftliche Anbaumethode unverzichtbar ist, um bis zur Mitte dieses Jahrhunderts voraussichtlich rund neun Milliarden Menschen zu ernähren.

Das Anliegen der 1946 von britischen Landwirten, Wissenschaftlern und Ernährungsexperten gegründeten Soil Association, die den organischen Landbau favorisiert, ist nachvollziehbar. Sie hinterfragt, ähnlich wie der 2008 herausgegebene Weltagrarbericht [2], an dem mehr als 400 Forscher gearbeitet haben, die Mythenbildung der Agrokonzerne. Die wollen in erster Linie Profite generieren, und sie behaupten, daß die Mittel und Methoden der industriellen Landwirtschaft, einschließlich die der Grünen Gentechnik, bei der Bekämpfung des Hungers in der Welt unverzichtbar sind.

Die Soil Association hat sich auf die Spur des Ursprungs dieser Behauptung begeben, die vom wissenschaftlichen Chefberater der britischen Regierung, Prof. John Beddington, und vom wissenschaftlichen Chefberater der DEFRA (Department of Environment, Food and Rural Affairs), Prof. Bob Watson, verbreitet wird und lautet, daß die globale Nahrungsproduktion bis 2030 um 50 Prozent und bis 2050 um 100 Prozent gesteigert werden müsse. Die Daten gehen demnach auf Aussagen von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und FAO-Direktor Jacques Diouf aus dem Jahre 2008 sowie auf Quellen aus den Jahren 2006 und 2003 zurück. Die Soil Association legt deshalb so viel Gewicht auf die Recherche, weil den Zahlen einige Bedeutung sowohl für die britische Landwirtschaftspolitik als auch für die internationale Debatte zur Nahrungsproduktion der Zukunft zukommt.

Die Kritik richtet sich erstens gegen die aus Sicht der Soil Association falsche Deutung der ursprünglichen Zahlen, zweitens dagegen, daß mit den Projektionen ein bestimmtes Konsumverhalten, nämlich ein zunehmender Fleischverbrauch in den Entwicklungs- und Schwellenländern, vorausgesetzt und gefördert wird - das ist nach Ansicht der Soil Association ungesund und hat in den entwickelten Ländern zu beträchtlichen Gesundheitsproblemen geführt. Und drittens gegen den durch die hohen Prozentangaben geweckten Eindruck, daß auf diese Weise der Hunger in der Welt beendet werden könne. Dem widerspricht die britische Bodenvereinigung entschieden. Hunger habe nicht nur mit absolutem Nahrungsmangel zu tun, sondern auch mit Zugang zu Nahrung und Nahrungsverfügbarkeit. Kurz, viele Menschen sind zu arm und können sich keine ausreichende Nahrung leisten.

Aus all dem leitet die Soil Association die Forderung ab, daß nicht die Agroindustrie, sondern die Produktion von lokalen Grundnahrungsmitteln unterstützt werden sollte. Viele Entwicklungsländer hätten sich zu Netto-Importeuren von Getreide, Fleisch und Milchprodukten gewandelt, dem könne nicht durch noch mehr Importe begegnet werden.

Mit ihrer Analyse und Schlußfolgerung trifft die Soil Association auf einen gegen die Agrokonzerne und Regierungen gerichteten Trend, die einerseits durch Subventionen und andere Eingriffe, andererseits durch die Propagierung des "freien" Markts die Profitmaximierung der großen Unternehmen unterstützten. Ob sich dieser Gegentrend durchsetzt, hängt nicht zuletzt mit der Schärfe und Tiefe der Analyse der Bedingungen der Nahrungsproduktion zusammen. Und da zeigt sich die Teilhaberschaft der Soil Association an den bestehenden Verhältnissen. Denn zu kritisieren, daß Konzerne wie Monsanto oder Syngenta das machen, was innerhalb der vorgegebenen Parameter der Produktionverhältnisse vernünftig ist, nämlich den Umsatz zu steigern und sich unverzichtbar zu machen (auch wenn das Bauern in den Ruin stürzt oder einer Gesellschaft Versorgungsprobleme bereitet), genügt nicht.

Die Politik hält die Industrie nicht in Schach, sie zähmt den Kapitalismus nicht, wie gemeinhin behauptet wird. Statt dessen arbeiten beide Hand in Hand, und da die UN-Organisationen vom Geldbeutel der sogenannten Geberländer abhängig sind, kann von ihnen keine, bzw. keine entschiedene Kritik an der vorherrschenden Politik erwartet werden. Zwar mahnen Ban, Diouf und andere UN-Funktionäre hin und wieder nachdrücklich eine höhere Spendenbereitschaft an, aber sie hinterfragen nicht prinzipiell die Verwertungsbedingungen, von denen letztlich auch sie profitieren.

So kommt es, daß inzwischen mehr als 1,1 Milliarden Menschen chronisch Hunger leiden, oder auch, daß die Staatengemeinschaft im Jahr 2000 Millenniumsziele beschlossen hat, wonach die Zahl der Hungernden bis zum Jahr 2015 nicht etwa auf Null zurückgefahren, sondern lediglich halbiert werden soll. Zugespitzt formuliert besagt jenes Millenniumsziel, daß bis 2015 weiterhin mehr als 400 Millionen Menschen Hunger leiden sollen.

Das Anliegen der Soil Association, eine Lanze für die organische Landwirtschaft zu brechen, eine Unterstützung der örtlichen Nahrungsproduktion zu fordern und die von Profitmaximierung motivierten Behauptungen der Agrokonzerne zu widerlegen, ist verständlich. Heikel wird es jedoch an der Stelle, an der die Organisation den Nachweis zu führen versucht, daß der Mangel in der Welt weniger hoch ausfallen wird, als allgemein befürchtet. Mit eben diesem Argument könnte bei einiger Böswilligkeit - und die ist bekanntlich keine Seltenheit unter Menschen - auch eine absolute Reduzierung der Hunger- und Entwicklungshilfe begründet werden. Diesen Standpunkt vertritt die Soil Association nicht, doch sie grenzt sich auch nicht gegen diese naheliegende "realpolitische" Auslegung der Nahrungsprognosen für 2030 und 2050 ab. Die vorherrschenden Produktionsbedingungen würden viel mehr in Frage gestellt, würde sich herausstellen, daß der globale Nahrungsmangel keine Frage der Verteilung, sondern der gegenwärtig absoluten Produktion ist. Solange es angeblich genügend zu verteilen gibt, besteht noch Hoffnung, einen Teil der Nahrung ergattern zu können. Falls jedoch nicht genügend Nahrung existiert, droht ein Sturm auf die Paläste.


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Anmerkungen:

[1] "Telling porkies - The big fat lie about doubling food production", Soil Associaton, 20. April 2010
http://www.soilassociation.org/LinkClick.aspx?fileticket=qbavgJQPY%2fc%3d&tabid=313

[2] http://hup.sub.uni-hamburg.de/opus/volltexte/2009/94/pdf/HamburgUP_IAASTD_Synthesebericht.pdf

21. April 2010