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LAIRE/1245: FAO-Notsitzung - Sorge wegen weltweit hoher Getreidepreise (SB)


FAO sieht Verhältnis zwischen Ernährungs-Angebot und -Nachfrage als ausgewogen an

Für Ökonomen sind eine Milliarde Hungernde offenbar kein Nachfrage-Faktor


Am vergangenen Freitag hat die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) wegen des plötzlichen Preisanstiegs für Weizen in diesem Jahr eine außerplanmäßige Notsitzung abgehalten. Die Kurzfristigkeit eines solchen Treffens sei bedauerlich, schrieb die in Rom ansässige Organisation, aber "außerordentliche Umstände" erforderten "außerordentliche Antworten". [1] Die der FAO unterstellte Intergovernmental Group on Grains (IGG) hatte in letzter Zeit von Mitgliedern und Medienvertretern zahlreiche besorgte Anfragen erhalten, ob sich gegenwärtig eine Preisexplosion ähnlich der von 2007/2008 wiederhole. Daraufhin hat sie beschlossen, ein "Intersessional Meeting of the IGG of Grains and of the IGG on Rice" einzuberufen.

Die schwere Hitzewelle und Dürre im zurückliegenden Sommer haben der Landwirtschaft in Rußland schweren Schaden zugefügt, so daß sich die Regierung genötigt sah, ein Exportverbot für Weizen zu verhängen. Auch in Kasachstan, Ukraine und Argentinien wird in dieser Saison weniger Weizen geerntet als erwartet. Der Weltmarktpreis für Weizen ist mittlerweile um 60 bis 80 Prozent gestiegen und der für Mais seit Juli dieses Jahres um rund 40 Prozent, für Reis immerhin noch um 7 Prozent. Aber der Weizenpreis läge noch immer ein Drittel unter dem Maximum aus dem Jahr 2008, versucht die FAO "die Märkte" zu beruhigen.

Für Investoren sind das hervorragende Aussichten. Bei Mißernten machen sie gute Geschäfte, da die Ware knapp wird und der Preis steigt. Die Profite auf der einen Seite bezahlen hungernde Menschen auf der anderen mit ihrem Leben. Sei es, daß sie an Nahrungsmangel verenden, oder sei es, daß sie bei Protesten umkommen, sofern sie rechtzeitig, bevor sie vollends entkräftet sind, noch genügend Antrieb zu demonstrieren verspürten. So wie vor wenigen Wochen die Bevölkerung von Mosambik. Dort haben Sicherheitskräfte dreizehn Personen bei Demonstrationen wegen der gestiegenen Brot- und Benzinpreise erschossen.

Die mosambikanische Regierung hatte während der mehrere Tage anhaltenden Unruhen in der Hauptstadt Maputo und anderen Städten zeitweilig den SMS-Verkehr ausgeschaltet, um mit dieser Maßnahme die Organisation des Widerstands lahmzulegen. Dennoch breitete sich die Nachricht von den Aufständen wie ein Lauffeuer aus und traf auf Menschen, die ebenfalls nicht genügend zu essen hatten und auf die Straße gingen, um zu demonstrieren.

Während der sogenannten Ernährungskrise 2007/2008, in der die Getreide- und Lebensmittelpreise in vielen Ländern der Erde empfindlich anzogen, kam es in mehreren Dutzend Ländern zu Demonstrationen und Hungeraufständen. Angesichts des globalen Ausmaßes der Krise vor zwei, drei Jahren und der - bislang - nur aus Mosambik bekannten Hungerunruhen war das Ergebnis der außerordentlichen FAO-Sitzung in Rom zu erwarten. Demnach gibt es keinen Hinweis auf eine bevorstehende globale Ernährungskrise. Die überraschenden Preissteigerungen stellten jedoch eine "beträchtliche Bedrohung der Ernährungssicherheit" dar, schrieb die UN-Organisation. [2] Dennoch konstatiert sie, daß sich Angebot und Nachfrage von Getreide "die Balance" halten. Hauptursachen der jüngsten globalen Preissteigerung und der -schwankungen seien unerwartete Mißernten in einigen wichtigen Exportländern, die zu nationalen Antworten sowie spekulativem Verhalten geführt hätten, nicht aber die Grundlagen des globalen Markts, behauptet die FAO.

Diese Einschätzung zeigt, daß sie bei der Analyse der Ernährungskrise ökonomische und nicht humanitäre Kategorien anwendet. Aus Sicht der Hungernden befinden sich Angebot und Nachfrage keineswegs in Balance. Fast eine Milliarde Menschen hat regelmäßig nicht genügend zu essen - welch eine Nachfrage! Aber so rechnet kein Ökonom. Die hungernden Menschen fallen von vornherein aus ihrer Bilanz heraus, weil sie kein wirtschaftlich relevanter Faktor sind. Sie verfügen über keine Mittel und treten auf dem Weltmarkt nicht in Erscheinung.

Die marktwirtschaftliche Gesetzmäßigkeit von Angebot und Nachfrage gilt somit nicht für Menschen, die gar nicht erst am Markt teilnehmen. Daraus leitet sich ab, daß die Weltmarktordnung so beschaffen ist, daß a priori Menschen unversorgt bleiben. Mit der Vorstellung, daß sich der Mangel in der Welt über Angebot und Nachfrage beheben läßt und daß dieses System alternativlos ist, wird über die systemische Menschenvernichtung am Sockel der gesellschaftlichen Pyramide hinwegzutäuschen versucht.

Es sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, daß die Hungernden auch deshalb nicht in den Berechnungen von Angebot und Nachfrage auftauchen, weil jeder weiß, daß ihnen gar nicht aus der Not geholfen werden soll. Wäre es anders, beispielsweise weil sich Hilfsorganisationen darauf festgelegt hätten, allen Hungernden in der Welt ausreichend Nahrung zur Verfügung zu stellen, würden diese über diesen Zwischenschritt der Hilfsorganisation tatsächlich als Faktor auf der Nachfrageseite relevant werden. Das werden sie jedoch nicht.

Eine verbindliche Aussage, den Hunger zu beenden, wurde nicht getroffen. Das erste von acht Millenniumszielen der sogenannten Staatengemeinschaft sieht lediglich eine Halbierung der Zahl der Hungernden bis 2015 vor. Die andere Hälfte wird von vornherein aus der Versorgung herausgerechnet. Im übrigen spricht die gegenwärtige Entwicklung dagegen, daß das "halbgare" Millenniumsziel erreicht wird, denn die Zahl der Hungernden hat sich gegenüber dem Referenzjahr 1990 deutlich erhöht.

Die FAO betrachtet es als eine ihrer Aufgaben, die Märkte zu beruhigen. Ob ihr das gelingt, werden die nächsten Wochen zeigen. Sicherlich nicht beruhigen wird sie dagegen die knurrenden Mägen. Dazu müßte die UN-Organisation die Denkvoraussetzungen ihrer eigenen Kategorien, in denen eine Milliarde hungernde Menschen nicht als Nachfrage-Faktor auftauchen, hinterfragen. Die Frage, wo die UN-Organisation steht, auf der Seite der Hungerbeseitigung oder der Seite der Hungerverwaltung, ist eindeutig zu beantworten.


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Anmerkungen:

[1] "Extraordinary Intersessional Meeting of the Intergovernmental Groups (IGG) on Grains and the IGG on Rice. Rome, Italy, 24 September 2010", online abgerufen am 28. September 2010
http://www.fao.org/economic/est/commodity-markets-monitoring-and-outlook/grains/grains-meetings/extraordinary-intersessional-meeting-of-the-intergovernmental-group-igg-on-grains-and-the-igg-on-rice/en/

[2] "Food price volatility a major threat to food security - But no indication of a global food crisis", 24. September 2010
http://www.fao.org/news/story/en/item/45690/icode/

28. September 2010