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LAIRE/1287: Mythos Welternährung - Getreidemenge reicht nicht für alle Menschen (SB)


Auch bei einer gerechteren Verteilung der globalen Nahrungsmenge würden Menschen hungern


In offiziellen Institutionen wie auch in Umwelt-, Menschenrechts- und entwicklungspolitischen Organisationen herrscht die Ansicht vor, daß die weltweit produzierte Getreidemenge theoretisch genügt, um die gesamte Menschheit ausreichend zu ernähren. Es sei lediglich eine Folge der ungleichen und ungerechten Verteilung, daß so viele Menschen hungern müßten. Diese Vorstellung wird in den letzten Jahren immer häufiger von einem Äpfel-mit-Birnen-Vergleich begleitet: Würden die Übergewichtigen in den Wohlstandsregionen abspecken, besäßen die Hungerleider in den Armutsländern genügend zu essen.

Der Glaube, daß die weltweit produzierte Getreidemenge alle Menschen satt machen könnte, erweist sich als Mythos. Das ist aus einem kenntnisreichen Gastbeitrag für IPS [1] von Janet Larsen, Gründungsmitglied des Earth Policy Institute in Washington, abzuleiten. Sie schreibt, daß die Bauern im vergangenen Jahr weltweit mehr Getreide geerntet haben als je zuvor, dennoch seien die Lager weitgehend leergeblieben. In sieben der vergangenen zwölf Jahre hätten die Ernten nicht ausgereicht, "um die gesamte Nachfrage zu befriedigen". [2]

Larsens Zahlen zeigen jedoch, daß bei einer besseren Verteilung des Getreides lediglich die Nachfrage von A nach B verschoben würde, aber sie nähme dadurch insgesamt nicht ab. Es herrscht ein realer Getreidemangel vor, der die Lagerbestände nach und nach abschmelzen läßt, wie die Autorin berichtet.

Der eigentliche Mangel muß sogar noch um vieles größer angenommen werden, als Larsens Zahlen vermuten lassen. Weltweit hungern rund eine Milliarde Menschen. Wer sich keine Nahrung leisten kann, wird von Ökonomen gar nicht erst als Nachfragefaktor gerechnet. Die Hungernden nehmen nicht oder nur geringfügig am ökonomischen Geschehen teil und tauchen bei einer Gegenüberstellung von Produktion und Konsum nicht auf. Deshalb muß der Bedarf an Nahrung deutlich über ihre Nachfrage angesiedelt werden.

Wollte man jene Milliarde Menschen ausreichend mit Nahrung [3] versorgen, wären die weltweiten Lagerbestände nicht nur "weitgehend leer", wie Larsen schreibt, sondern sie hätten niemals - gegen den akuten Bedarf der Hungernden! - aufgebaut werden können. Die globalen Getreidereserven, die vom US-Landwirtschaftsministerium (USDA) auf zur Zeit 72 Tage veranschlagt werden, täuschen somit über den tatsächlich verbreiteten Mangel hinweg. So wenig, wie ein Burgherr im Mittelalter bei der Bilanzierung seiner Lagerbestände die bittere Not der Bauern im Umland berücksichtigt, hat das USDA den Nahrungsmangel des Heers der Hungernden weltweit im Blick.

Die Gesellschaft verschleiert in der Regel, daß es nicht genügend Nahrung für alle gibt. Viele Menschen werden dem Hungertod überantwortet, je nach Berechnungsgrundlage bis zu drei Dutzend Millionen jedes Jahr. Das bedeutet jedoch, daß dem ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag, jener Grundlage von Recht und Ordnung, der Boden entzogen ist. Aus der Sicht der Hungernden gibt es keinen Grund, sich an Recht und Ordnung zu halten, da von vornherein feststeht, daß die von der Gesellschaft versprochene Gegenleistung für Anpassung - Schutz und Sicherheit für Leib und Leben -, nicht gewährleistet werden kann und soll. Und das eben nicht nur, weil die Vertreter irgendeines räuberischen Regimes ein Volk auspressen, laufend Besitzstand anhäufen und ihn in eigens dafür geschaffenen Einrichtungen parken, den Banken, die sich eine goldene Nase an der Aufbewahrung der Beute verdienen, sondern weil der Nahrungsmangel systemisch angelegt ist.

Eine Welt mit einer "gerechteren" Verteilung der Nahrung wäre keine Lösung des Problems, sondern trüge zur Verschleierung dieses fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruchs bei. Es verwundert nicht, daß die Privilegierten dieser Welt, die keinen Hunger leiden müssen, den Mythos von der ausreichend großen Nahrungsmenge für alle Menschen nicht in Frage stellen, untergrübe das doch die eigene Vorteilslage. Eine mehr "Gerechtigkeit" fordernde Kritik an der heutigen Nahrungsverteilung bleibt jedoch systemimmanent und damit berechenbar. Welches Gewaltpotential in leeren Mägen steckt, hat die globale Nahrungskrise 2007/2008 gezeigt, als es weltweit zu Unruhen in mindestens 35 Ländern kam und Regierungen stürzten oder zumindest in arge Bedrängnis gebracht wurden. Auch die "Revolutionen" in der arabischen Welt entzündeten sich unter anderem an gestiegenen Lebensmittelpreisen.

Aber welches rebellische Potential würde erst freigesetzt, wenn die Aufständischen den Irrglauben an die ausreichend große Nahrungsmenge für alle Menschen und seine besänftigende, die gesellschaftliche Hierarchie sichernde Funktion realisierten, sie aber zugleich nicht bereit wären, sich über eine wie auch immer geartete Teilhaberschaft auf die Seite der Gewinner ziehen zu lassen?



Anmerkungen:

[1] http://schattenblick.com/infopool/politik/ernaehr/perl1503.html

[2] In Larsens englischsprachigem Beitrag für das Earth Policy Institute heißt es ebenso unmißverständlich wie im deutschen IPS-Artikel, daß in manchen Jahren der Getreideverbrauch größer war als die Produktion: "Yet with global grain production actually falling short of consumption in 7 of the past 12 years, stocks remain worryingly low, leaving the world vulnerable to food price shocks."
http://www.earth-policy.org/indicators/C54/grain_2012

[3] Obwohl Larsen über Getreide schreibt, wird hier mitunter der allgemeinere Begriff "Nahrung" verwendet. Denn Getreide ist das Hauptnahrungsmittel der Menschheit, und der Mangel ist bei anderen Nahrungsquellen nicht weniger groß. Beispielsweise werden unsere "Lager" für Fisch, die Weltmeere, unaufhaltsam leergeräumt. 85 Prozent der Fischbestände stehen vor dem Kollaps. Siehe:
http://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article12721150/Globalen-Fischbestaenden-droht-der-Kollaps.html

19. Januar 2012