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LAIRE/1332: Australien - Flucht, Lager und Gefangenschaft ... (SB)



Ihre Arbeit werde nicht mehr gebraucht, wurde der Organisation Ärzte ohne Grenzen von der Regierung Naurus am 5. Oktober völlig unvermittelt beschieden. Sie habe ihre Aktivitäten im Flüchtlingscamp auf Nauru binnen 24 Stunden zu beenden. Inzwischen haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisation die Insel verlassen. Die dadurch entstandene Lücke vor allem in der psychologischen Betreuung wird nicht geschlossen. Die Folgen werden gravierend sein.

Im Juni 2017 hatte Ärzte ohne Grenzen eine Abmachung mit der Regierung der Republik Nauru getroffen und im November damit begonnen, medizinische Hilfe für alle Menschen zu leisten, die auf dem 21 Quadratkilometer kleinen pazifischen Eiland leben. "One Door for All", eine Tür für alle, lautete das Motto der Regierung, die damit zum Ausdruck bringen wollte, daß weder die einheimische Bevölkerung noch die Flüchtlinge benachteiligt werden. Ärzte ohne Grenzen hat sich vor allem um die psychologische Betreuung der Flüchtlinge gekümmert, weil es daran nach Einschätzung der Organisation erheblich gemangelt hat.

Am heutigen Donnerstag, fünf Tage nach ihrem Rauswurf, hat sich Ärzte ohne Grenzen an die Öffentlichkeit gewandt und über die desolaten Verhältnisse in dem Flüchtlingslager auf Nauru berichtet. Viele Menschen dort sind akut selbstmordgefährdet, da sie keine Perspektive haben, jemals die Insel wieder verlassen zu können. Die Menschen seien "am Boden zerstört", die Lage sei "katastrophal". "Während die australische Regierung die Offshore-Haft als humanitäre Politik darstellt, zeigt unsere Erfahrung, daß nichts Menschliches daran ist, Menschen aus dem Meer zu retten, nur um sie anschließend in ein Freiluftgefängnis auf Nauru zu stecken", sagte Paul McPhun von Ärzte ohne Grenzen Australien auf einer Pressekonferenz in Sydney. "Eigentlich sollten nicht wir die Insel verlassen, sondern die Flüchtlinge." [1]

Auch die Psychiaterin Dr. Beth O'Connor, die auf der Insel gearbeitet hat, findet deutliche Worte:

"Es ist absolut schändlich zu behaupten, daß die psychische Gesundheitsversorgung von Ärzte ohne Grenzen nicht mehr erforderlich ist. Die psychische Gesundheitssituation der Flüchtlinge, die auf unbestimmte Zeit auf Nauru festgehalten werden, ist verheerend. In den letzten elf Monaten habe ich auf Nauru eine alarmierende Anzahl von Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen bei den von uns behandelten Flüchtlings- und Asylbewerbern, Männern, Frauen und Kindern, erlebt. Besonders schockiert waren wir über die vielen Kinder, die an einem traumatischen Entzugssyndrom litten, bei dem sich ihre Verfassung so weit verschlechterte, daß sie nicht mehr essen, trinken oder gar auf die Toilette gehen konnten."

Ärzte ohne Grenzen hatte die psychologische Hilfe sowohl in einer eigenen Klinik vor Ort als auch im örtlichen Krankenhaus sowie in Form von Hausbesuchen angeboten. Außerdem wurden auf Nauru Personen in der psychologischen Betreuung ausgebildet und unterstützt. Als besonders problematisch wird die Ungewißheit beschrieben, ob die Insassen jemals wieder das Lager verlassen werden. Das sei schlimmer als im Gefängnis zu sitzen, denn da wüßte man zumindest, wann man wieder rauskommt, gibt O'Connor die Aussage von Flüchtlingen wieder. Natalia Hverta Perez, die ebenfalls Psychiaterin ist, ergänzt: "Die Kinder sprechen nicht mal mehr mit ihren Familien. Die Eltern müssen sie manchmal ins Krankenhaus bringen, damit sie über Nadeln künstlich ernährt werden."

In Nauru sind zur Zeit rund 900 Flüchtlinge, darunter 120 Kinder, interniert. Sie dürfen die Insel nicht verlassen. Ärzte ohne Grenzen spricht von 78 Flüchtlingen, die Suizidgedanken hegen oder schon versucht haben, sich umzubringen, oder die sich selbst verletzt haben. Sogar neunjährige Kinder sprächen davon, daß sie lieber sterben würden, als weiter in so einem Zustand der Hoffnungslosigkeit zu leben. Zu den psychisch besonders belasteten Personen gehörten zweifelsohne jene, die zwangsweise von ihren Familien getrennt wurden.

Erst vor wenigen Tagen hatte ein 36 Jahre alter Iraner versucht, sich das Leben zu nehmen. Daraufhin wurde er von der Polizei verhaftet und abgeführt, weil ein Suizidversuch als strafbare Handlung gilt. Der Flüchtling hatte Waschpulver geschluckt, aber anstatt ihm rasche medizinische Hilfe zukommen zu lassen, hatte die Lagerverwaltung die Polizei gerufen.

Im Jahr 2013 vereinbarte die australische Regierung mit der Regierung von Nauru, daß sie die Flüchtlinge, die in Australien Asyl begehren, aufnimmt. Auch auf der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Manus wurden ähnliche Flüchtlingslager eingerichtet. Auf keinen Fall sollten Asylsuchende weiterhin ihren Fuß auf australisches Festland setzen, lautet die politische Vorgabe aus Canberra. In den letzten fünf Jahren wurde immer wieder über Suizidversuche von Flüchtlingen sowie Mißhandlungen und Vergewaltigungen, von Unruhen und Polizeigewalt und auch mangelhaften medizinischen und hygienischen Verhältnissen berichtet. Den Aussagen der Flüchtlingen zufolge hat es allein zwischen Mai 2013 und Oktober 2015 sage und schreibe 2116 Fälle von Gewalt, Mißbrauch und Selbstverletzung gegeben. Das seien zwei Vorfälle pro Flüchtling, berichtete damals die "Welt" [2].

Im Juli dieses Jahres gingen in Sydney, Melbourne, Adelaide, Brisbane, Canberra und Perth viele tausend Menschen auf die Straße, um gegen die Internierungslager auf Manus und Nauru zu protestieren. Die Lager gehört aufgelöst und die Flüchtlinge nach Australien gebracht, lautete die immer wieder erhobene Forderung. Die USA haben zugesagt, 1200 Flüchtlinge von Manus und Nauru aufzunehmen, doch nur ein Bruchteil wurde bislang ausgeflogen. Dabei könnte es bleiben, hat doch US-Präsident Donald Trump die unter seinem Vorgänger Obama getroffene Übereinkunft einen "schlechten Deal" genannt.

Die australische Regierung denkt nicht daran, die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen zu ersetzen, sondern wird weiterhin mit International Health and Medical Services (IHMS) zusammenarbeiten. Diese Organisation wurde vor 18 Jahren in Sydney gegründet, damit sie innerhalb des australischen Flüchtlingslagersystems die medizinische Grundversorgung und psychische Betreuung leistet. Doch immer wieder wurde Kritik an der IHMS geübt. Die Todesfälle Hamid Kehazaei und Faysal Ishak Ahmed unter der Obhut von IHMS auf der Insel Manus hätten sicherlich vermieden werden können.

Doch selbst der IHMS werden Steine in den Weg gelegt. Im September dieses Jahres hat die nauruische Regierung das Visum des IHMS-Arztes Dr. Christopher Jones zurückgezogen. Vermutlich hat man angenommen, daß er den Flüchtlingen in Rechtsfragen beigestanden hat, berichtet die Flüchtlingshilfsorganisation Refugee Action Coalition. Sie sieht auch einen Zusammenhang zwischen dem Rauswurf von Ärzte ohne Grenzen und einer Entscheidung des australischen Bundesgerichts, wonach die australische Regierung kranke Flüchtlinge zur medizinischen Behandlung, die nicht auf Nauru geleistet werden kann, nach Australien bringen muß. Das aber wolle die nauruische Regierung unter allen Umständen verhindern. Beispielsweise sei auch während des Pacific Island Forums auf Nauru das Urteil des Bundesgerichts hintertrieben worden, indem man einem Rettungsflugzeug die Landung auf der Insel verweigert hatte.

"Zweifellos geht die Regierung Naurus gegen Ärzte ohne Grenzen vor, weil die Organisation den Flüchtlingen in der gegenwärtigen medizinischen Notlage, die das Offshore-Gefängnis verschlungen hat, hilft", sagte Ian Rintoul, Sprecher der 1999 in Australien gegründeten Refugee Action Coalition. "Das von Australien geschaffene Offshore-Haftmonster ist wirklich außer Kontrolle geraten." Rintoul spricht von einer "humanitären Katastrophe", die bewußt herbeigeführt worden sei [3].

Die australische Regierung, die eine äußerst repressive Flüchtlingspolitik betreibt, hat in Nauru einen Kooperationspartner gefunden, der die Abschottung des Landes mitträgt. Einst war auf der kleinen Insel, 3000 Kilometer von Australien entfernt, Phosphat abgebaut worden. Das hatte Geld in die Kasse gespült. Der drittkleinste Staat der Erde war zugleich einer der reichsten, beim Pro-Kopf-Einkommen nur noch übertroffen von Saudi-Arabien. Das war im vergangenen Jahrhundert, die Phosphatvorkommen sind längst erschöpft. Jetzt wird mit der Aufnahme und dauerhaften Internierung von Flüchtlingen Geld verdient.


Fußnoten:

[1] https://www.msf.org.au/article/statements-opinion/msf-calls-immediate-evacuation-all-asylum-seekers-and-refugees-nauru

[2] https://www.welt.de/politik/ausland/article157851796/Einmal-australische-Hoelle-und-kein-Zurueck.html

[3] http://www.refugeeaction.org.au/?p=7145

11. Oktober 2018


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