Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


LAIRE/1353: Allgemeingültig - die regelbasierte internationale Ordnung ... (SB)



"Wir treten gemeinsam nachdrücklich für eine regelbasierte internationale Ordnung ein. Die Vereinten Nationen, ihre Organe und Verfahren stehen im Zentrum dieser internationalen Ordnung, die wir entschlossen verteidigen."
(Erklärung der Außenminister anläßlich des Deutsch-Französischen Ministerrats vom 16. Oktober 2019 [1])

Die "regelbasierte internationale Ordnung" ist ein Kampfbegriff, mit dem die westliche Staatengemeinschaft Absolutheitsanspruch für ihr bevorzugtes politisches System erhebt. Unliebsame Staaten werden dadurch ausgegrenzt. In den meisten Fällen wird den Vereinten Nationen die Rolle zugesprochen, die regelbasierte internationale Ordnung zu gewährleisten. Allerdings werden Rußland und China für ihre gelegentliche, mutmaßliche Blockadehaltung bei Abstimmungen im UN-Sicherheitsrat bezichtigt, während umgekehrt die USA, Frankreich und Großbritannien Völkerrechtsverletzungen begehen und rechtfertigen. Das macht die Vereinten Nationen zu einem diplomatischen Schlachtfeld.

Eine regelbasierte internationale Ordnung beruht nicht auf einem natürlichen Recht, unhinterfragbaren Normen oder gewohnten Verhaltensweisen. Sie beruht vielmehr darauf, daß ein oder mehrere staatliche Subjekte die Fähigkeit besitzen, ihre Vorstellung von Ordnung und Regeln durchzusetzen, notfalls sogar die eigene Rechtsauffassung mit militärischen Mitteln anderen staatlichen Subjekten aufzunötigen.

So stellen die Luftangriffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs im vergangenen Jahr auf Syrien nach verbreiteter Rechtsauffassung einen klaren Bruch des Völkerrechts dar. [2] Das sehen diese Staaten nicht so, sondern sie berufen sich auf ihr mutmaßliches Recht, einen Giftgaseinsatz der syrischen Regierung gegen die eigene Bevölkerung vereiteln zu wollen bzw. die Regierung dafür zu bestrafen, daß sie das angeblich bereits getan hat. Die deutsche Regierung hat die völkerrechtswidrigen Angriffe als "angemessen" und "notwendig" bezeichnet. [3]

Nach Lesart des Westens hat Syrien die regelbasierte internationale Ordnung verletzt. Rußland hingegen hat die Angriffe auf Syrien scharf verurteilt und den Angreifern mit Konsequenzen gedroht. Welches Recht sich an welcher Stelle durchsetzt, hängt offenbar von der Machtposition der Beteiligten ab. Beispielsweise wäre die syrische Regierung umgekehrt gar nicht in der Lage gewesen, Luftangriffe auf US-amerikanische Biowaffenlabore in Fort Detrick zu fliegen, obwohl dort, um ein weiter zurückliegendes Beispiel zu nehmen, Milzbrandsporen entwickelt wurden, die jemand, der sich möglicherweise im Staatsdienst befindet, gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat. Um Schlimmeres zu verhindern und größeren Schaden abzuwenden sowie eingedenk der offenkundig unzureichenden Schutzmaßnahmen der US-Regierung - fünf Personen sind an den Sporen gestorben - wäre eine humanitäre Intervention mit Luftschlägen wegen dieser "barbarischen" Taten vorstellbar. Zumindest in der Theorie.

Die USA unter Donald Trump verlassen die regelbasierte internationale Ordnung, wie sie bisher von ihren Beteiligten mehr oder weniger abgesprochen war, bzw. sie interpretieren sie neu, indem sie sich selbst an die Spitze der Ordnung stellen und fortan Weltpolitik mit Sanktionen, Aufhebung internationaler Verträge (Atomabkommen mit Iran, Klimaschutzübereinkommen von Paris) und der Androhung völliger Zerstörung, wenn ein Staat sich nicht unterwirft, betreiben.

Entgegen einer häufig kolportierten Ansicht bricht diese America-first-Politik jedoch nicht mit einer regelbasierten Ordnung, sondern sie legt sie neu aus. Denn, wie gesagt, wer über die erforderlichen Machtmittel verfügt, kann seine Rechtsauffassung durchsetzen, ohne sich zwingend selbst daran halten zu müssen.

Was hatte die Afrikanische Union 2011 bis zum Schluß gefleht, den Libyen-Konflikt auf diplomatischem Wege lösen zu wollen - es hatte nichts genutzt. Vor allem Frankreich und Großbritannien waren so erpicht darauf, den libyschen Revolutionsführer Muamar Gaddafi in die Schranken zu weisen, daß sie die AU-Diplomaten gar nicht erst einreisen ließen und statt dessen Luftangriffe auf das Land flogen. Libyen, das damals mit die höchsten Gesundheits- und Sozialstandards in ganz Afrika besaß, wurde nachhaltig zerstört und ist bis heute Bürgerkriegsland - ein Ergebnis der regelbasierten internationalen Ordnung.

Auf andere Weise, aber mit ähnlichen Folgen waren zuvor Jugoslawien und Irak von NATO-Staaten humanitär-interventionistisch zerschlagen worden. Die Eingliederung der Krim in das russische Territorium ist völkerrechtlich nicht weniger umstritten. Welche Interpretation der regelbasierten internationalen Ordnung sich letztendlich durchsetzt, ist offen und hängt davon ab, wer der Stärkere ist. Wobei sich die Stärke nicht aufs Militärische beschränkt, aber auch nicht darauf verzichten kann, mit dem Militär zu drohen oder es einzusetzen, wenn die "Umstände" es erfordern sollten.

Wer bei einem Spiel die Regeln verletzt, erhält normalerweise die rote Karte und wird vom Spiel ausgeschlossen. Wer in der Geopolitik die Regeln verletzt, wird womöglich sanktioniert und wirtschaftlich, politisch und kulturell aus der "Gemeinschaft" ausgeschlossen. Aber wer stellt die Regeln auf? Wer hat das Recht, sie gegebenenfalls zu erweitern oder zu streichen? Wessen Interpretation der Regeln gilt, und warum sollten sich andere nach ihnen richten, zumal wenn es zu ihrem Nachteil wäre? Das Völkerrecht hat keine oberste Instanz, es setzt sich aus einem Konglomerat an Verträgen, Gewohnheiten und Absprachen zusammen. Darum ist es interpretierbar, und es ist der Willkür desjenigen überlassen, der anderen eine Regelwidrigkeit vorwirft, ob er sich selbst an die Regel hält oder nicht.

Wenn im politischen Diskurs die Einhaltung der regelbasierten internationalen Ordnung angemahnt wird, wie es von Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA (in der Prä-Trump-Ära) regelmäßig getan wird, dann diente diese Ordnung in erster Linie dazu, andere wahlweise auszugrenzen, zu unterwerfen und sich selbst als Nationalstaat in eine möglichst vorteilhafte Position zu bringen. Insofern kann diese Ordnung hinsichtlich der mit ihr verbundenen Interessen nicht unhinterfragt bleiben, auch nicht als schützenswerter Gegenpol zum Unilateralismus der USA unter Donald Trump.


Fußnote:

[1] tinyurl.com/y3dxm8kj

[2] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/033/1903319.pdf

[3] http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/035/1903512.pdf

8. November 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang