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DILJA/1090: Das Wort "Bodenoffensive" repräsentiert die Sicht Israels (SB)


Am 7. Tag des israelischen Krieges gegen die Bewohner des Gazastreifens wurde die "Bodenoffensive" von "Beobachtern" erwartet

Auf palästinensischer Seite würde niemand die angekündigte und vollständig vorbereitete Ausweitung des Krieges so nennen


Unlängst kündigte Dan Hare, der Vize-Generalstabschef der israelischen Armee, an, daß die Operation "Gegossenes Blei" erst an ihrem Anfang stünde und daß "das Schlimmste" erst noch komme. Am Ende werde, so prophezeite Hare, "kein Gebäude der Hamas" mehr existieren. Die Angriffe würden keineswegs nur gegen den militärischen Arm der gewählten palästinensischen Regierungspartei gerichtet werden. Gabriela Shalev, Botschafterin Israels bei den Vereinten Nationen, zufolge stellt die vollständige Zerstörung der gesamten Hamas das Kriegsziel dar.

Sieben Tage Krieg, geführt von israelischer Seite mit Bombenangriffen aus der Luft und von See her, haben den Gazastreifen bereits in eine Region beispielloser Verzweiflung und elender Not verwandelt. Jenny Linnel, Aktivistin des International Solidarity Movement (ISM), einer palästinensisch geführten Bewegung, die sich zu den Grundsätzen gewaltfreien Widerstands gegen die israelische Besatzung bekennt, schilderte aus eigenem Erleben die ständigen Luftangriffe der israelischen Armee auf "Ziele" im Gazastreifen folgendermaßen [1]:

Tag und Nacht fallen Bomben auf das dichtbesiedelte Wohngebiet in der Nähe des Stadtzentrums von Rafah. Zwischendurch ist es manchmal für eine halbe oder eine Stunde ruhig. Gestern gab es eine massive Explosion, hier ganz in der Nähe. So etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Am Ende der Straße, in der ich hier bei einer Familie wohne, wurde mit einem Schlag ein Gebäude dem Erdboden gleich gemacht. Darin befand sich eine Apotheke, direkt daneben waren Wohnhäuser. Sofort stürzten Menschen dorthin und versuchten, die Medikamente zu retten. Ich sah schreiende Kinder und verzweifelte Eltern; Menschen, die hilflos wegrannten. Überall waren Glassplitter von zerborstenen Fenstern, und Menschen, die damit übersät waren. Das war längst nicht der einzige Angriff der Besatzungsarmee auf medizinische Einrichtungen. Gestern wurde im Flüchtlingslager von Djabalia ebenfalls eine medizinische Versorgungseinrichtung bombardiert.

Medizinische Einrichtungen werden von der israelischen Armee keineswegs unabsichtlich, sondern ganz gezielt angegriffen. So erhielt der Leiter des völlig überfüllten Krankenhauses Al-Shifa in Gaza-Stadt, in dem sich nicht nur über 400 Tote, sondern auch mehr als 1500 der durch die jüngsten Bombardierungen zumeist schwerverletzten Überlebenden befinden, vom israelischen Militär die Aufforderung, das Krankenhaus zu evakuieren, weil man es bombardieren werde. Ein solcher Angriff wäre nicht der erste auf zivile Einrichtungen, in denen unter den widrigsten Umständen der israelischen Blockade und nun auch noch des Bombenkrieges versucht wird, das Überleben der rund eineinhalb Millionen Bewohner des kleinen Küstengebiets zu organisieren. Getroffen wurden zwei Trinkwasserwerke, eine Kläranlage, zahllose Wohnhäuser, eine Fabrik für Verbandsstoff, Hafenanlagen und Verwaltungsgebäude.

Für den Fall, daß aufgrund der Berichte, die westliche Augenzeugen direkt aus dem Gazastreifen - noch - zu liefern in der Lage sind, verhaltene Kritik seitens der westlichen Staaten aufkommen, weil deren Regierungen ein solches Abschlachten wehrloser Menschen vor den Augen ihrer Bevölkerungen nicht offen gutheißen wollen, liefert die israelische Regierung mit der Behauptung, die auf Krankenhäuser durchgeführten Angriffe hätten Hamas-Mitgliedern gegolten, die sich dort als Krankenschwestern oder/und Ärzte getarnt hätten, die wohl denkbar zynischste Ausrede. Im israelischen Armeerundfunk begründete ein Sprecher nach der ersten Kriegswoche die permanenten Luftangriffe damit, daß die Palästinenser im Gazastreifen "abgeschreckt" werden sollten, Raketen auf israelisches Gebiet zu schießen; die Entmachtung der Hamas, so behauptete er, sei nicht beabsichtigt.

Tatsächlich gleichen diese Raketenangriffe, so bedauernswert die wenn auch wenigen Opfer unter der israelischen Zivilbevölkerung sein mögen, eher Nadelstichen als tatsächlich militärisch effizienten Gegenangriffen. Nach Angaben der israelischen Armee haben palästinensische Kämpfer in den zurückliegenden Kriegstagen über 250 Raketen abgeschossen und dadurch vier Menschen in Israel getötet. Offensichtlich sind die im Vergleich zur israelischen Armee schlechtausgerüsteten palästinensischen Milizen nicht einmal ansatzweise in der Lage, die ständigen Bombardierungen der israelischen Luftwaffe zu unterbinden. Ihre militärischen Attacken können demnach einzig und allein darauf abzielen, in der israelischen Bevölkerung ein Klima zu schaffen, das die Regierung und die Armee zwingen würde, den Luftkrieg gegen die Bewohner des Gazastreifens einzustellen und stattdessen politische Verhandlungen und vor allem einen Waffenstillstand anzubahnen.

Da der Status Quo vor dem von Israel vor einer Woche begonnenen Bombenkrieg bereits einen Zustand der permanenten Drangsalierung und Aushungerung von eineinhalb Millionen unter israelischer Blockade lebender Menschen darstellt, benannte Ismail Hanija, der gewählte palästinensische Ministerpräsident, in einer Fernsehansprache unlängst als die Bedingungen, die von seiten der Hamas an eine Einstellung der Raketenangriffe geknüpft werden, neben der Beendigung der Luftangriffe die Aufhebung der Blockade des Gazastreifens sowie die Öffnung der Grenzübergänge. Doch es steht völlig außer Frage, daß Israel diese Bedingungen für vollkommen indiskutabel hält. Die israelische Regierung hätte die Blockade nicht verhängt und im November vergangenen Jahres nicht noch verschärft, wenn sie nicht konsequent die Absicht verfolgt hätte, durch eine Zermürbung und Aushungerung der Gazastreifen-Bewohner die Voraussetzungen dafür zu schaffen, diese Region aus ihrer Sicht endgültig "zu befrieden".

Da die Hamas unter den gegenwärtigen Bedingungen eines gegen den Küstenstreifen geführten Zermürbungs-, wenn nicht gar Vernichtungskrieges mehr denn je bestrebt ist, die Lebensinteressen der Menschen, die sie bei den Parlamentswahlen im Januar 2006 zu 60 Prozent zu ihrer Vertreterin gewählt haben, zu wahren, bestehen nicht die geringsten Aussichten, daß Israels Plan, nämlich daß die Bewohner Gazas die Hamas stürzen würden, aufgehen könnte. Dieses Kalkül entbehrt jeder realen Basis und scheint von Reißbrett-Strategen zu stammen, die ihrerseits das Problem haben könnten, die in Israel derzeit noch vorherrschende Zustimmung zu diesem Krieg zu verlieren, sobald eigene Tote in größerer Zahl und aus den Reihen des Militärs zu beklagen sein würden.

Dies dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, warum die längst beschlossene und medienwirksam angekündigte "Bodenoffensive" entgegen allgemeiner Einschätzungen noch nicht begonnen wurde. Kein Palästinenser würde die damit verbundene Ausweitung des Krieges, der in ein noch sehr viel furchtbareres Gemetzel übergehen könnte, sobald israelische Panzer die dichtbesiedelten Wohngebiete des Gazastreifens überrollen würden, vorab wohl "Bodenoffensive" nennen. Aus israelischer Sicht, die in einem erschreckenden, wenngleich nicht erstaunlichen Ausmaß vom Westen übernommen wurde, sind es natürlich wichtige strategische Fragen, inwiefern die erklärten und mehr noch die bislang unerklärten Kriegsziele nur unter Inkaufnahme großer eigener Verluste in einem mörderischen Kampf um jedes Haus und jede Straße, bei dem auch die Opferzahlen unter der palästinensischen Zivilbevölkerung sehr schnell noch sehr viel höher steigen würden, erreicht werden können.

Der Aufmarsch der israelischen Soldaten und Panzer im Grenzgebiet zum Gazastreifen wurde nach Angaben der Armee längst abgeschlossen. Tausende Soldaten "warten", wie es in westlichen Medien formuliert wurde, nur noch auf ihren Marschbefehl. Man müsse sich auf einen langen und harten Kampf einstellen, ließ ein Armeesprecher wissen. Die Spekulationen darüber, daß die sogenannte Bodenoffensive unmittelbar bevorstünde und eigentlich schon am heutigen Freitag mit ihr zu rechnen gewesen sei, wurden zusätzlich genährt durch die Bereitschaft Israels, Ausländern auf Bitten ihrer Botschaften die Ausreise zu genehmigen. Zu diesem Zweck wurde der Grenzübergang Erez bereits kurzfristig geöffnet; die ersten von rund 400 ausreisewilligen Ausländern konnten den Gazastreifen auf diesem Wege verlassen. Desweiteren hat die israelische Regierung heute über das Westjordanland und Ost-Jerusalem eine zweitägige Ausgangs- und Einreisesperre verhängt - aus Angst vor Attentatsversuchen, wie es hieß.

Angeblich wurde in Israel die "zögerliche" Haltung der Regierung Olmert, die zwar die Bombardierungen des Gazastreifens auch am siebten Tag in Folge nahtlos fortsetzen und dabei neben 30 bis 40 Häusern auch eine Moschee zerstören ließ, dieser bereits zum Vorwurf gemacht. Es sei dahingestellt, ob die israelische Bevölkerung, die mehrheitlich den vor einer Woche begonnenen Krieg gutheißen soll, auch mit einem weitaus verlustreicheren Bodenkrieg einverstanden wäre und tatsächlich eine Bodenoffensive einfordern würde. Die Stimmen derer, die immer wieder verkünden, daß eine friedliche Zusammenarbeit mit den Palästinensern und auch der 2006 von diesen mehrheitlich gewählten Hamas-Regierung die beste Sicherheitsgarantie für Israel wäre, mögen noch rar gesät sein, würden jedoch unweigerlich auf mehr Gehör stoßen, sollten in einem Krieg, der an die Schrecken von Stalingrad gemahnen könnte, mehr und mehr israelische Soldaten fallen.

Anmerkung

[1] Tag und Nacht fallen Bomben auf das Wohngebiet, Interview mit Jenny Linnel von Sophia Deeg, junge Welt vom 31.12.2008, S. 2

2. Januar 2009