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DILJA/1102: Vorwandslage Zwischenfall - Israels Militär will wieder zuschlagen (SB)


Den Menschen im Gazastreifen droht erneut die militärische Vernichtung

Nach tödlichem Zwischenfall kündigt Israel "harte und unmittelbare Reaktionen" an


Die relative Waffenruhe, die nach der jeweiligen Erklärung Israels wie auch der Hamas am 17. bzw. 18. Januar im Gazakrieg eingetreten war, droht durch ein erneutes Losschlagen der israelischen Militärmaschinerie beendet zu werden. Wie der NDR-Korrespondent Clemens Verenkotte heute nachmittag aus Tel Aviv berichtete, hätten israelische Medien unter Berufung auf namentlich nicht genannte Quellen in Sicherheitskreisen erklärt, Israel müsse "hart und unmittelbar reagieren". Da hochrangige israelische Politiker nach der Erklärung der Waffenruhe diese mit der Einschränkung angekündigt hatten, sofort wieder losschlagen zu wollen, sobald ein weiterer palästinensischer Angriff erfolge, stand ohnehin zu befürchten, daß man in einem solchen Falle den von einer weit überlegenen Militärmaschinerie geführten Krieg gegen eine weitgehend wehrlose und den Angriffen schutzlos ausgelieferte und noch dazu ausgehungerte Bevölkerung wieder aufnehmen würde ungeachtet der internationalen Kritik an den von der israelischen Armee verübten Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen.

Ein solcher Angriff, der die Vorwandslage für eine erneute Wiederaufnahme bzw. Fortsetzung des militärischen Zerstörungswerkes im Gazastreifen liefern soll, scheint nun stattgefunden zu haben. Da bislang nur Informationen vorliegen, die auf Angaben der israelischen Armee beruhen, ist höchste Skepsis angebracht, zumal die Möglichkeit, daß ein solch "ernster Zwischenfall", der nach Ansicht des israelischen Verteidigungsministers Ehud Barak "nicht akzeptiert" werden könne, von israelischer Seite zu solchen Zwecken eigens fingiert worden sein könnte, nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Außenministerin Zipi Livni zeigte nicht das geringste Interesse an der Aufklärung eines Zwischenfalls im Grenzgebiet zwischen Israel und dem südlichen Gazastreifen. Laut NDR-Info erklärte sie: "Ich bin nicht daran interessiert, wer das war, Israel muß darauf antworten."

Nach Angaben Verenkottes kam gegen 13 Uhr die offizielle Bestätigung der israelischen Armee, aus der ihre Darstellung des Zwischenfalls hervorging. Demnach hätten palästinensische Militante gegen acht Uhr Ortszeit eine Militärpatrouille der israelischen Streitkräfte am Rande des südlichen Gazastreifens auf israelischem Gebiet angegriffen, indem sie einen Sprengsatz zur Explosion brachten. Ein israelischer Soldat wurde getötet, vier weitere, einer von ihnen schwer, verletzt. Bei Feuergefechten zwischen bewaffneten Palästinensern und den israelischen Streitkräften sei daraufhin ein Palästinenser getötet worden. Den Angaben palästinensischer Rettungskräfte zufolge soll es sich bei ihm um einen 27jährigen Landwirt gehandelt haben. Die israelische Armee setzte ihre "Reaktionen" fort. Kampfhubschrauber feuerten auf Ziele im Gazastreifen, bei denen es sich um Stellungen der Militanten gehandelt haben soll, mit schwerem Maschinengewehrfeuer. Ein israelisches Kampfflugzeug versetzte die Bewohner Gazas in Angst und Schrecken, indem es die Stadt überflog und dabei die Schallmauer durchbrach.

Vor der Ankunft des vom neuen US-Präsidenten Barack Obama frisch ernannten Nahost-Sonderbeauftragten George Mitchell, der am morgigen Mittwoch zu Gesprächen in Jerusalem und Ramallah und selbstverständlich nicht in Gazastadt erwartet wird, könnte die Lage kaum angespannter sein. Während auf israelischer Seite ein Toter und drei verletzte Soldaten Grund oder vielmehr Vorwandslage genug sein sollen, um abermals die Waffen sprechen zu lassen, kämpfen im Gazastreifen Tausende Menschen verzweifelt um ihr tägliches Überleben. Die sogenannte "humanitäre" Lage, die eher als unmenschlich bezeichnet werden müßte, ist so katastrophal, daß mit weiteren Toten, die zwar nicht unmittelbar durch militärische Einwirkung, aber mittelbar durch die israelische Blockade, die be- und verhinderten Hilfen sowie die weitgehend zerstörte Infrastruktur ihr Leben verlieren, zu rechnen ist.

Lebensmittel und frisches Wasser sind Mangelware. Waren vor dem Krieg etwa eine halbe Million Menschen auf Nahrungshilfen von außen angewiesen, ist es nun mit 1,1 von 1,5 Millionen Bewohnern die überwiegende Mehrheit. Dreiviertel des Gazastreifens sind ohne Stromversorgung, eine halbe Million Menschen hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Allein dies kommt einer tickenden Zeitbombe gleich, da, zumal nicht nur das Trinkwasser-, sondern auch das Abwassersystem fast vollständig zusammengebrochen ist, mit einer explosionsartigen Ausbreitung von Krankheiten zu rechnen ist, weil viele Menschen gezwungen sind, verunreinigtes Wasser zu trinken. Da eine medizinische Versorgung der Bevölkerung so gut wie nicht mehr besteht - im Krieg wurden allein 21 Krankenhäuser zerstört oder beschädigt -, ist der tödliche Verlauf dieser Rundum-Katastrophe absehbar.

Doch all dies wird kaum ein Thema sein, das der neue US-Nahostgesandte mit seinen Gesprächspartnern diskutieren wird. Der Rückendeckung der neuen US-Administration konnte sich die israelische Führung schon vorab sicher sein, weshalb die wohl nur vorübergehende Einstellung der Kampfhandlungen seitens der israelischen Armee, die nun erklärtermaßen wohl wieder aufgenommen werden, allem Anschein nach nur taktisch begründet war, um die Feierlichkeiten zur Amtseinführung Barack Obamas nicht durch störende Bilder von bombardierten Häusern im Gazastreifen und verzweifelten Bewohnern beeinträchtigen zu lassen. Jedwede Hoffnung, der smarte neue Präsident könnte ein Herz für Palästinenser haben und etwas anderes betreiben als die mit wohlfeilen Worten fortgesetzte Politik seines Amtsvorgängers, ist gänzlich fehlangebracht. Obama hatte schon im Juli vergangenen Jahres während seiner Reise nach Israel bei einem Besuch in der nahe des Gazastreifens gelegenen Stadt Sderot erklärt, daß, wenn jemand Raketen in sein Haus schieße, in dem seine beiden Töchter nachts schliefen, er alles in seiner Macht stehende tun würde, um das zu unterbinden.

Am 21. Januar 2009 berichtete der Palästinenser Khaled Abed Rabbo dem britischen Independent, daß seine Familie am 7. Januar von der Besatzung eines israelischen Panzers aufgefordert worden sei, ihr Haus im Flüchtlingslager Dschabalija zu verlassen. Als sie dies getan hätten, sei auf sie geschossen worden, wodurch seine beiden Töchter Amal (2) und Suad (7) getötet wurden, die vierjährige Samer liege schwer verletzt im Krankenhaus. Die israelische Armee erklärte dem Independent gegenüber, sie greife keine Zivilisten an, sondern "nur Hamas-Terroristen und ihre Infrastruktur". Weder der neue US-Präsident Barack Obama noch sein Gesandter werden alles in ihrer Macht stehende tun, um palästinensische Kinder vor solchen Angriffen zu schützen - es sei denn, man interpretiert ihre Übernahme der israelischen Position tatsächlich als Absicht, einen dauerhaften Frieden zu schaffen, indem der noch immer widerstandswillige Teil der palästinensischen Bevölkerung mit aller nur denkbaren Brachialgewalt zur Kapitulation gezwungen wird.

27. Januar 2009