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DILJA/1174: OSZE aktiviert Kalten Krieg - Sowjetische "Schuld" am Zweiten Weltkrieg (SB)


Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) behauptet Mitschuld der Sowjetunion am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges

Antikommunismus 2009 reaktiviert geschichtsrevisionistische Klischees


"Alles, was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden." [1]

Diese ebenso bemerkenswerte wie aufschlußreiche Äußerung Adolf Hitlers datiert vom 11. August 1939 gegenüber dem Beauftragten des Völkerbundes, Carl Jacob Burckhardt. Der Westen allerdings war - oder tat - "zu dumm" oder "zu blind", um dem deutschen Diktator in aller Offenheit in dessen Bestreben freie Hand zu lassen, mit kriegerischen Mitteln für Nazideutschland neuen "Lebensraum", Ressourcen und menschliche Arbeitskraft zu gewinnen, um dem erklärten Endziel, der Eroberung und Vernichtung der Sowjetunion, näherkommen zu können. Die Entscheidung Stalins, mit Hitler als dem absehbar größten Aggressor und potentiellen Angreifer einen Nichtangriffspakt zu schließen, wie im August 1939 kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen geschehen, hat viele Kommunisten der damaligen Zeit innerhalb wie außerhalb der Sowjetunion gelinde gesagt vor den Kopf gestoßen. Frei nach dem Motto, ein Pakt ist dazu da, gebrochen zu werden, erfolgte der Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion 1942 im dritten Kriegsjahr.

Diese Anmerkungen mögen genügen um festzustellen, wie umstritten der sogenannte Nichtangriffspakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion, auch kurz Hitler-Stalin- oder auch Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt, schon damals war. Aus Hitlers Sicht mag er dem Zweck geschuldet gewesen sein, die Sowjetunion als das eigentliche Kriegsziel möglichst lange über die tatsächlichen Angriffsabsichten im Unklaren zu belassen. Ob auf sowjetischer Seite Stalin wirklich geglaubt hat, durch ein solches Zugeständnis - dem deutschen Reich wurden in Zusatzprotokollen zu dem am 23. August 1939 geschlossenen Pakt die baltischen Staaten "überlassen" - den Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion abwehren zu können, ist unerheblich angesichts dessen, daß das Deutsche Reich und nicht die Sowjetunion diesen Pakt gebrochen hat.

Am vergangenen Samstag nun verabschiedete die Parlamentarische Versammlung der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) in Vilnius eine Resolution, durch die unter Verweis auf eben diesen Nichtangriffspakt von 1939 die "Schuld" am Zweiten Weltkrieg zu gleichen Teilen an Nazideutschland und die Sowjetunion verteilt wurde. Laut Resolutionstext soll fortan der 23. August als "Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus" dem Gedenken an Massenvertreibungen und Vernichtung gewidmet werden. Die Resolution war auf Antrag des litauischen Abgeordneten Vilija Aleknaite Abramikiene angenommen worden und stellt einen so hochkarätigen Affront gegen das OSZE-Mitglied Rußland dar, daß von einer Selbstdiskreditierung des europäischen Staatenbündnisses gesprochen werden muß. Die OSZE stellt ohnehin ein seltsames Zwitterwesen dar, da sie keinen völkerrechtlich eindeutig geklärten Status hat.

Einerseits beansprucht sie einen hohen politischen Stellenwert, der sich aus ihrer behaupteten Zweckbestimmung, für Sicherheit und Zusammenarbeit und insbesondere auch die Durchsetzung der Menschenrechte in Europa einzutreten, ergibt, was es der Organisation, wie beispielsweise im Bosnien- bzw. im Jugoslawienkrieg bereits geschehen, ermöglicht, durch ihr Urteil und ihre Einschätzungen militärische Interventionen der NATO zu rechtfertigen. Problematisch ist die von der OSZE angemaßte Rolle, als vermeintliche der Bewahrung bzw. Durchsetzung von Frieden und Demokratie eingeschworene Organisation bei der Scheinlegitimierung des exakten Gegenteils mitzuwirken nicht zuletzt auch deshalb, weil unklar ist, ob die OSZE überhaupt im völkerrechtlichen Sinne eine "internationale Organisation" ist. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat deshalb wiederholt auf eine Klärung dieser Frage gedrungen, doch solange dies nicht geschehen ist, bleibt die OSZE ein Instrument, gegen dessen Entscheidungen und Beschlüsse betroffene Staaten keinerlei Widerspruchsmöglichkeiten haben.

Vor diesem Hintergrund ist die sogenannte "Vilnius Deklaration", wie derselbe stramm antikommunistische Vorstoß noch genannt wurde, als man ihn im April 2009 im Europaparlament vorbrachte, keine ausschließlich historisch relevante Angelegenheit, sondern droht als Rechtfertigungskonstrukt für einen Aggressionskurs der führenden westlichen Staaten gegenüber dem heutigen Rußland eingesetzt zu werden. Dies macht die nun von der Parlamentarischen Versammlung der OSZE angenommene Resolution so brisant. Wäre sie allein in geschichtsrevisionistischen Kreisen diskutiert und schließlich zur historischen Wahrheit erklärt worden, hätte sich dies noch als geschichtlich vollkommener Unsinn abtun lassen. Die Verabschiedung dieser Resolution erfolgte jedoch keineswegs in einem luftleeren Raum, sondern an einem Ort und zu einem Zeitpunkt, die eine wohlorchestrierte Eskalationsstrategie gegenüber Moskau vermuten lassen.

Entsprechend harsch fielen hier die Reaktionen aus. Mit dieser Resolution wird im Rahmen der OSZE für verbindlich erklärt, daß "Faschismus" und "Stalinismus" gleichermaßen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hätten. Beide "Systeme" wurden als "antisemitisch" bezeichnet. Bei ihnen habe es sich um zwei totalitäre Regime gehandelt, die Einflußsphären untereinander aufteilten, fremde Nationen unter ihre Stiefel zwangen und dem Antisemitismus huldigten. Blanker und so bar jeder historisch ernstzunehmenden Bodenhaftung könnte antikommunistische Propaganda heute kaum in Worte und Resolutionen gegossen werden. Die sowjetische Rote Armee, die den maßgeblichsten Anteil am Sieg der Anti-Hitler-Koalition hatte und ihren Beitrag mit dem mit Abstand höchsten Blutzoll bezahlten mußte, hätte dieser Lesart zufolge Krieg gegen sich selbst führen müssen. Wie kann die Sowjetunion "Schuld" haben an einem Krieg, der zu ihrer eigenen Vernichtung begonnen und von ihr nur unter größten Anstrengungen und Verlusten zurückgeschlagen werden konnte bis hin zur Kapitulation im Mai 1945? In Rußland rief diese OSZE-Resolution nicht etwa nur Kopfschütteln hervor, sondern führte zur vorzeitigen Abreise der russischen Delegation aus Vilnius. Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Auswärtiges, erklärte zu diesem namentlich von den baltischen Staaten initiierten Vorstoß folgendes [2]:

Wir haben jetzt mit systematischer Arbeit zu tun, die eine Gruppe osteuropäischer Staaten führen. Die drei baltischen Staaten und Polen geben dabei den Ton an. Diese Staaten, vor allem die Baltenländer, wollen mit der Sowjetunion abrechnen. Ihre Geschichte ist in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg ziemlich zweifelhaft, da ein Großteil der Bevölkerung dieser Republiken, die damals zur Sowjetunion gehörten, an Hitlers Seite kämpfte.

Dieses Thema erhitzt die Gemüter von vielen Politikern: Sie wollen sich reinwaschen und als unschuldige Opfer zeigen. Und natürlich auch die Sowjetunion als ebenso großes Übel darstellen wie Hitlers Deutschland. Das sollte seinerzeit durch das Europaparlament durchgedrückt werden, jetzt haben sie das durch die Parlamentarische Versammlung der OSZE gedrückt.

Die Deutung, es würde sich bei diesem geschichtsleugnenden Vorstoß um einen wenn auch späten Rachefeldzug der kleinen Staaten des Baltikums handeln, scheint jedoch zu kurz gegriffen zu sein. Würde ihr offener Antikommunismus, wohinter sich ein kaum verborgener Aggressionskurs gegenüber dem heutigen Rußland verbirgt, allein auf "ihrem Mist" gewachsen sein, wäre die Resolution wohl kaum im Kreise der 56 OSZE-Staaten mehrheitsfähig gewesen. Da das Verhältnis zwischen der Organisation und seinem Mitgliedsland Rußland seit dem Georgienkrieg im vergangenen August ohnehin höchst angespannt ist, scheint mit diesem Beschluß ein weiterer Siebenmeilenschritt auf dem Weg zu einer vom Westen öffentlich gewollten Konfrontation genommen worden zu sein. Eingedenk der Tatsache, daß die damalige Sowjetunion 40 Prozent der Toten des Zweiten Weltkrieges, in absoluten Zahlen über 20 Millionen Menschen, zu beklagen hatte, hätte sich die nun erfolgte Gleichsetzung zwischen Nazi-Faschismus und "Stalinismus" andernfalls schon aus Gründen der Pietät angesichts dieser Toten sowie des tiefen Respekts vor den Leistungen der Roten Armee verboten.

[1] Zitiert aus: Betrifft: "Hitler-Stalin-Pakt". Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom August 1939: Bündniskonstellationen und Interessenkonflikte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, von Kurt Mellenthin, junge Welt, 12.05.2005

[2] Zitiert aus: OSZE hilft Ex-Sowjetrepubliken beim Umschreiben der Geschichte, RIA Novosti, 6.7.2009, http://de.rian.ru/world/20090706/122227411.html

8. Juli 2009