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DILJA/1239: Quo vadis, Türkei? AKP-Regierung Erdogans bezieht gegen Israel Position (SB)


Hinter dem diplomatischen Eklat zwischen Israel und der Türkei verbirgt sich ein völlig unausgestandener Konflikt

Die AKP-Regierung des NATO-Staates Türkei leistet grundsätzliche Kritik an Israels Palästinapolitik


Eigentlich sind Israel und die Türkei enge, um nicht zu sagen engste Verbündete und Partner, unterhalten beide Länder doch umfangreiche wirtschaftliche, aber auch militärische Beziehungen zueinander. Die Türkei hat als einziger islamischer Staat Israel bereits kurz nach der Staatsgründung - 1949 - anerkannt. Die engen Beziehungen zu den USA und den europäischen Staaten, die Türkei ist noch dazu in der NATO, tun das Ihre, um aus beiden Staaten zwei Brückenpfeiler ein und derselben Position zu machen, einer Position, die als Waffenbrüderschaft im direkten wie übertragenen Wortverständnis mit dem Westen zu bezeichnen wäre. All dies wäre der Erwähnung kaum wert, hätte nicht die seit 2002 von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von der als gemäßigt islamisch geltenden "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) gebildete Regierung in jüngster Vergangenheit einen israelisch-kritischen Kurs eingeschlagen.

Die Türkei steht seit längerem im Begriff, sich als eigenständige Regionalmacht im gesamten Bereich des Nahen und Mittleren Ostens zu etablieren. Dabei scheint sie in dem Maße an Ansehen in der arabischen und islamischen Welt zu gewinnen, in dem sie sich von der US-amerikanisch-europäischen Vormundschaft zu lösen willens und imstande ist. Durch kritische Stellungnahmen gegenüber Israel insbesondere während und wegen des Gazakrieges stieg der türkische Ministerpräsident zu einem Hoffnungsträger der arabischen Welt auf, die solche Töne aus Ankara nicht gewohnt war. So hatte Erdogan im Januar 2009 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos für einen diplomatischen Eklat gesorgt, der die hier dominierenden westlichen Staaten nicht unberührt ließ.

Aus Protest gegen die israelischen Massaker in Gaza hatte der türkische Regierungschef das Gipfelpodium verlassen, nachdem ihm dort, aus "formalen Gründen", wie es hieß, eine Gegenrede zu den Ausführungen des israelischen Präsidenten Shimon Peres zum Krieg in Gaza verwehrt worden war. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amru Musa, blieb hingegen sitzen, bezeugte Erdogan jedoch seinen Respekt, indem er ihm im Vorbeigehen die Hand schüttelte. Erdogan hatte sich zuvor schon als Vermittler um eine Einigung zwischen Israel, dem strategischen "Partner" der Türkei, und den Palästinensern bemüht, sich dabei jedoch keineswegs die israelischen Maximalpositionen zu eigen gemacht. So stellte es für den türkischen Ministerpräsidenten eine Selbstverständlichkeit dar, in die israelisch-palästinensischen Vermittlungsbemühungen die Hamas als demokratisch gewählte Repräsentantin mit einzubeziehen. Bei dem wenn auch ergebnislos verbliebenen Versuch, die Freilassung des israelischen Soldaten Shalit auf dem Verhandlungswege zu erreichen, hatte Erdogan die Haltung seiner Regierung in diesem Konflikt folgendermaßen verdeutlicht [1]:

Wir sind bereit, uns für die Freilassung des israelischen Gefreiten Gilad Shalit einzusetzen, dafür muss aber Israel den Parlamentspräsidenten und die Abgeordneten der Hamas freilassen. Man kann nicht das ganze Parlament eines Gebietes gefangen halten und zugleich erwarten, dass die Leute Ruhe geben.

Nach dem Gazakrieg verschlechterten sich die israelisch-türkischen Beziehungen rapide. Die bilaterale Zuspitzung in den Beziehungen zweier angeblicher Verbündeter, deren Verbindung eher auf den jeweiligen Außenverhältnissen und strategischen Kalkulationen und keineswegs auf einer politisch und kulturell gewachsenen Freundschaft beruht, fand einen vorläufigen Höhepunkt in der Entscheidung der AKP-Regierung in Ankara, ein bereits seit längerem verabredetes Luftwaffenmanöver der NATO, das alljährlich auf türkischem Territorium unter Einbeziehung Israels stattfindet, abzusagen bzw. der israelischen Luftwaffe die Teilnahme zu verweigern. Die NATO-Staaten Türkei, USA, Italien und andere hatten zwischen dem 10. und 23. Oktober vergangenen Jahres zusammen mit Israel ihre gemeinsame Kampffähigkeit testen wollen; nach der Ausladung Israels sagten auch die USA ihre Teilnahme ab.

Aus israelischer Sicht betreibt Ankara eine Politik der permanenten Provokation, intensiviert doch die türkische Regierung ihre nachbarschaftlichen Kontakte auch zu all jenen Staaten, die in Tel Aviv mehr oder minder offen zu Feinden erklärt wurden. Mit Syrien beispielsweise hielt die türkische Armee bereits im vergangenen Frühjahr gemeinsame Manöver ab, im Oktober wurde eine zweite Runde vereinbart. Ministerpräsident Erdogan stellte im vergangenen Jahr bei vielen Gelegenheiten klar, daß die Türkei den anti-iranischen Kurs ihrer westlichen Partnerstaaten nicht (länger) mitzutragen gewillt ist. Erdogan bezeichnete seinen iranischen Amtskollegen wiederholt als einen Freund. Gegenüber dem britischen Guardian stellte Erdogan in bezug auf Mahmud Ahmadinedschad klar [2]:

Kein Zweifel, er ist unser Freund. Wir unterhalten sehr gute Beziehungen und haben überhaupt keine Schwierigkeiten miteinander.

Der türkische Ministerpräsident scheute sich auch nicht, Kritik an den westlichen NATO-Partnern wegen deren Iranpolitik zu üben [2]:

Es gibt eine Verhaltensweise, die nicht gerade fair ist. Denn diese Länder haben selbst sehr starke nukleare Strukturen und bestreiten das auch gar nicht. Alle ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats besitzen Atomwaffen. Außerdem gibt es Länder, die nicht der Internationalen Atomenergiebehörde angehören und ebenfalls Atomwaffen besitzen. Während also Iran keine Atomwaffe hat, besitzen diejenigen, die sagen, daß Iran keine haben darf, selbst welche.

Bereits im Februar vergangenen Jahres traf Erdogan mit Rußland eine Vereinbarung über eine umfassende Zusammenarbeit und schloß mit Moskau ein strategisches Abkommen. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, daß die außenpolitische Neupositionierung der türkischen AKP-Regierung keineswegs, wie angesichts einer zunehmend reservierten Haltung gegenüber der EU wegen der jahrelangen, um nicht zu sagen jahrzehntelang unerfüllt gebliebenen Beitrittsanwartschaft vielleicht noch hätte vermutet werden können, aus einer noch stärkeren Anbindung an Washington resultiert haben könnte. Vor Erdogans Amtsantritt hatte die Vermutung, die EU-Staaten würden die in Aussicht gestellte, jedoch nie fest zugesagte Aufnahme der Türkei schon deshalb nie realisieren, weil sie sich damit auch den einzigen Konkurrenten im Gerangel um Platz 1 unter den Hegemonialmächten, nämlich die USA, als deren verlängerter Arm die Türkei angesehen wurde, mit an den Tisch geholt hätten, einiges für sich gehabt. Eine strategische Zusammenarbeit mit Rußland, das seinerseits die Türkei als Beobachter zur Schanghai-Kooperation, dem Gegengewicht der asiatischen Staaten zur NATO, eingeladen hat, steht dieser Deutung nun entgegen.

Am vergangenen Montag erreichten die Spannungen zwischen der türkischen Regierung und Israel eine neuen Höhepunkt. Erdogan hatte den libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri in Ankara empfangen. Bei dieser Gelegenheit erneuerten beide Politiker ihre Kritik an Israel, wobei der türkische Regierungschef die jüngsten Luftangriffe Israels auf Ziele im Gazastreifen ebenso scharf kritisierte wie die permanenten Luftraumverletzungen des südlichen Libanon, der in Verletzung der UN-Resolution 1701 immer wieder von israelischen Kampfjets und Aufklärungsdrohnen überflogen werde. Erdogan warf Israel vor, UN-Resolutionen zu verletzen und "zu tun, was es wolle" [3] und erklärte, daß die Türkei diese Haltung nicht akzeptiere. Zu den Luftraumverletzungen des Libanon, zu dem Ankara eine neue Partnerschaft hege, werde er "nie mehr schweigen", so Erdogan.

Der türkische Ministerpräsident erneuerte auch seine Kritik an den westlichen Staaten und insbesondere den Vetomächten im Weltsicherheitsrat und auch Deutschland, denen er vorwarf, die atomare Bewaffnung Israels stillschweigend zu ignorieren, den Iran jedoch wegen seines Atomprogramms massiv unter Druck zu setzen. Nach dieser Pressekonferenz Erdogans in Ankara wurde der türkische Botschafter in Tel Aviv, Oguz Çelikkol, ins dortige Außenministerium zitiert, wo er eine nach allen diplomatischen Regeln nur als Beleidigung aufzufassende Behandlung erfuhr. "Ich arbeite seit 35 Jahren als Diplomat im türkischen Außendienst und bin noch nie so gedemütigt worden", sollte Çelikkol hinterher gegenüber der israelischen Zeitung "Jediot Achronot" erklären.

Offiziell wurde dieser diplomatische Tritt vors Schienbein nicht mit den vorherigen Äußerungen Erdogans begründet, sondern mit dessen genereller Kritik am Gazakrieg sowie der von einem türkischen Privatsender gezeigten Fernsehserie "Zeit der Wölfe", die von der israelischen Regierung als antisemitisch bezeichnet wurde. Die Türkei reagierte umgehend und ließ durch Staatspräsident Abdullah Gül den Rückruf des Botschafters aus Tel Aviv ankündigen, sollte bis Mittwochabend nicht eine offizielle Entschuldigung der israelischen Regierung vorliegen. Der für den Eklat direkt verantwortliche Vizeaußenminister Danny Ajalon erklärte daraufhin, er habe nicht die angemessene diplomatische Form gewählt, behielt die inhaltliche Position seiner Regierung jedoch bei. Dies wurde in Ankara als unzureichend abgelehnt, woraufhin der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Außenminister Avigdor Lieberman eine schriftliche Entschuldigung Ajalons an den türkischen Botschafter sandten, die Ankara akzeptierte.

Beigelegt dürfte der Konflikt zwischen diesen beiden Staaten, abgesehen von der formalen Beendigung des diplomatischen Gezänks, nicht im mindesten sein, wenn auch der für Sonntag geplante Besuch des israelischen Verteidigungsministers Ehud Barak in Ankara vonstatten gehen wird. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß der neue außenpolitische Kurs der Erdogan-Regierung, der mit dessen politischer Offensive zur Beilegung der Kurdenfrage auch auf innenpolitischem Gebiet eine wenn auch bislang ergebnislos verbliebene Entsprechung findet, auf eine gegenüber den NATO-Staaten zunehmend distanzierte Positionierung hindeutet. Der politische Frontverlauf in diesem brisanten, weil die westlichen Hegemonialbestrebungen in der gesamten Region tangierenden Konflikt verläuft zudem nicht nur zwischen den "Partnern" Israel und Türkei, sondern auch innerhalb der Türkei zwischen einer vom Westen als gemäßigt anerkannten islamischen Regierung und einer kemalistisch-laizistischen Staatsdoktrin, hinter der sich, kaum verhohlen, eine versteckte Militärherrschaft, genannt "tiefer Staat", verbirgt.

Unter der gegenwärtigen AKP-Regierung haben die zuständigen Staatsanwaltschaften schon vor Jahren umfangreiche Prozesse gegen dessen Struktur, das Putschistennetzwerk Ergenekon, in die Wege geleitet. Die israelkritische Haltung Ankaras könnte ihre tieferen Wurzeln auch in dem wenn auch juristisch unbestätigten Verdacht haben, daß der israelische Mossad in die auf einen Staatsstreich hinarbeitenden Umtriebe Ergenekons involviert sein könnte. Weitere Spuren führen zu neokonvervativen Kreisen in den USA, was die Regierung Erdogan in ihrem Bestreben, auch gegenüber Washington eigenständige Positionen zu beziehen, nur bestärkt haben dürfte.

[1] Die Türkei, die Friedensklinik Asiens. Ankaras neue Außenpolitik und die Wiederentdeckung des Nahen Ostens, von Behrouz Khosrozadeh, Telepolis, 13.04.2009

[2] Krieg gegen Iran wäre "verrückt". Türkei: Regierungschef kritisiert westliche Haltung im Atomstreit. Harte Worte gegen Merkel und Sarkozy, von Knut Mellenthin, junge Welt, 27.10.2009, S. 6

[3] Scharfe Kritik an Israel. Libanesischer Premier zu Besuch in Ankara. Türkei sucht enge Bindungen zu arabischen Staaten, von Karin Leukefeld, junge Welt, 14.01.2010, S. 7

14. Januar 2010