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DILJA/1261: Nationalfeiertag - Will Israel die Vertreibung von 1948 vollenden? (SB)


Israel feiert seine Staatsgründung, während die palästinensische Katastrophe - Nakba - aus den Schulbüchern verbannt wurde

Steht den Palästinensern die Vollendung der Vertreibung von '48 bevor?


Am morgigen 20. April 2010 feiert Israel zum 62. Mal mit dem sogenannten Unabhängigkeitstag "Yom Ha'atzmaut" die eigene Staatsgründung von 1948. Aus diesem Anlaß verhängte die israelische Regierung bereits am Samstagabend um Mitternacht eine insgesamt 72stündige Komplett-Blockade des Westjordanlandes. Gegen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens erübrigte sich eine solche zusätzlich repressive Maßnahme, da dieses kleine, von 1,5 Millionen Menschen unter extremsten, blockadebedingten Mangelbedingungen bewohnte Stückchen Land ohnehin durch die israelische Armee und ihre ägyptischen Verbündeten vollkommen abgeriegelt wird. Der alljährlich begangene israelische Gedenktag ist für die in den von Israel besetzten Gebieten lebenden Palästinenser mit weiteren Drangsalierungen verknüpft, aber auch für die in den außerisraelischen Flüchtlingslagern oder als Menschen zweiter Klasse in Israel lebenden oder in israelischer Haft befindlichen Menschen ein besonders schmerzvoller Tag.

Die Unabhängigkeit, worunter der Akt der Staatsgründung Israels im Jahre 1948 zu verstehen ist, beruhte auf der gewaltsamen Vertreibung von rund 700.000 Palästinensern, denen bzw. deren Nachfahren bis heute die Rückkehr verwehrt wird. In Israel allerdings soll die Erinnerung an die Große Katastrophe der Palästinenser, genannt Nakba, getilgt werden. Einem Beschluß des israelischen Bildungsministeriums vom 22. Juli 2009 zufolge darf dieses Thema in Schulbüchern nicht mehr behandelt werden. Davon sind vor allem die palästinensischen Israeli betroffen, die rund ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen und deren Kinder getrennt von jüdischen Kindern unterrichtet werden. Wenn überhaupt, wird in israelischen Schulbüchern in diesem Zusammenhang die Behauptung aufgestellt werden, es habe sich um einen freiwilligen Abzug gehandelt. Tatsächlich war dieser "Abzug" so "freiwillig", wie es die Flucht nahezu unbewaffneter Menschen vor einer ihren Möglichkeiten gegenüber vollkommen überlegenen, mit Panzern und modernstem Kriegsgerät ausgerüsteten Armee nur sein kann.

Die Palästinenser können keine Staatsgründung feiern, weil ihnen eben dies seit ebenso langer Zeit verwehrt wird. Leila Shahid, palästinensische Repräsentantin bei der Europäischen Union, schilderte die nach wie vor verheerende Situation ihres Volkes im Zusammenhang mit den Folgen der israelischen Staatsgründung vor über zwei Jahren und damit noch vor dem Gazakrieg vom Dezember 2008 und Januar 2009 folgendermaßen [1]:

Die Situation ist zur Zeit sehr schwierig und sehr ernst. Das schlimmste ist, daß es sich um eine Auseinandersetzung unter Palästinensern handelt. Unsere Bevölkerung ist schon im Gefolge der "Nakba", der Katastrophe von 1948, zerstreut worden. Ein Teil blieb in Israel, ein anderer ging ins Exil, und ein weiterer lebt in den seit der Eroberung von 1967 militärisch besetzten Gebieten. Wir sind nicht durch einen gemeinsamen Raum, ein gemeinsames Territorium verbunden. Wir sind also eigentlich auch nicht in der Lage, einen Bürgerkrieg zu führen. Doch was sich in Gaza abgespielt hat, kann man nicht anders bezeichnen: Es war der Beginn eines Bürgerkriegs. Leider kann niemand garantieren, daß etwas Derartiges nicht auch im Westjordanland oder in den Flüchtlingslagern losgeht, denn es gibt Kräfte, die das anheizen. Die USA verfolgen eine Bürgerkriegsstrategie, und das nicht nur in Palästina, sondern auch im Libanon oder im Irak.

Shahid bezieht sich auf die seinerzeitigen massiven innerpalästinensischen Auseinandersetzungen zwischen der Hamas als der wählten palästinensischen Regierung und der ihr gegenüber von Israel wie auch den westlichen Staaten bevorzugten und als alleinige Repräsentantin anerkannten Autonomiebehörde um Präsident Mahmud Abbas. Am vergangenen Samstag haben, zeitgleich zu der von Israel verhängten Blockade des Westjordanlandes, die zerstrittenen palästinensischen Organisationen Hamas und Fatah zum ersten Mal seit der Aufkündigung ihrer gemeinsamen Regierung und der faktischen Aufteilung der jeweiligen Einflußgebiete zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland wieder eine gemeinsame Aktion durchgeführt. Im Gazastreifen begingen Aktivisten beider Organisationen zusammen den "Tag der palästinensischen Gefangenen", indem sie einen 24stündigen Hungerstreik durchführten und die auch von Präsident Abbas unterstützte Forderung nach Freilassung der über 7000 in israelischen Gefängnissen inhaftierten Palästinenser erhoben.

Damit scheint der israelischen Strategie, die Palästinenserorganisationen und damit die Palästinenser zum eigenen strategischen Vorteil gegeneinander auszuspielen, zumindest in ersten Ansätzen gegengesteuert zu werden. Dies ist gerade zum jetzigen Zeitpunkt von besonderer Relevanz, weil die israelische Regierung den im Gazastreifen lebenden Palästinensern offen mit einem weiteren Krieg droht. So hatte der israelische Finanzminister Juval Steinitz am 28. März 2010 im Militärrundfunk erklärt: "Früher oder später werden wir das militaristische pro-iranische Regime der Hamas, das den Gazastreifen kontrolliert, liquidieren müssen." Diese Kriegsandrohung blieb seitens der westlichen Staaten wie auch internationaler Organisationen vollkommen unkommentiert, um von mäßigenden Worten, deutlichen Protesten oder gar gegen Israel verhängten Sanktionen gar nicht erst zu sprechen.

Die internationale Gemeinschaft hatte die von Israel begangenen und in dem von Richard Goldstone im Auftrag der Vereinten Nationen verfaßten Bericht dokumentierten Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen zur Kenntnis genommen und war zu einer Tagesordnung übergangen, die die tabuisierte Frage nach den Plänen und Absichten, die die Regierung Netanjahu gegenüber den Palästinensern hegt, um so krasser erscheinen läßt, je tatkräftiger sie auch nur zu stellen vermieden wird. Nach wie vor scheint sich Israel der bedingungslosen Unterstützung seitens der EU wie auch der USA sicher sein zu können. Die EU weigert sich, eine Resolution ihres eigenen Parlaments, in dem die Aussetzung des eigentlich an die Einhaltung der Menschenrechte geknüpften EU-Israel-Assoziationsabkommens sowie eine Aufhebung der faktischen, Israel zuerkannten Straflosigkeit verlangt wird, umzusetzen. US-Außenministerin Hillary Clinton forderte Israel vor wenigen Tagen auf, mehr Engagement für den Frieden zu zeigen. Clinton regte an, Israel möge mehr Respekt für die legitimen Ziele der Palästinenser aufbringen, den Siedlungsbau stoppen und die humanitären Probleme im Gazastreifen angehen.

Da diese wohlfeilen Worte mit keinerlei Druckmitteln oder auch nur der Androhung etwaiger Sanktionen verknüpft wurden, kommen sie einer Nullaussage gleich und sind offensichtlich als ein propagandistisches Unterfangen zu bewerten, um einem womöglich drohenden Verlust an Ansehen und Einfluß der USA auf die verbündeten arabischen Staaten durch eine allzu offensichtliche Parteinahme für Israel entgegenzuwirken. Diese Stellungnahme Clintons ist deshalb schwerwiegend, weil sie drei Tage nach der Bekanntgabe einer am 13. April 2010 in Kraft getretenen, allerdings schon ein halbes Jahr zuvor, am 13. Oktober 2009, beschlossenen neuen Militärverordnung erfolgt, mit der die noch aus dem Jahre 1969 stammende Regelung zur Ausweisung palästinensischer "Eindringlinge" aus dem Westjordanland erheblich ausgeweitet wird. Von nun an können Palästinenser, aber auch ausländische Unterstützer als "Infiltranten" innerhalb kürzester Zeit ausgewiesen oder, bei Zuwiderhandlung, mit bis zu sieben Jahren Gefängnis bestraft werden, die sich nach Auffassung der Besatzungsbehörden illegal im Westjordanland aufhalten. Da die israelischen Behörden ihrerseits alles nur Erdenkliche unternehmen, um den Palästinensern, selbst wenn sie schon seit Jahren und Jahrzehnten im Westjordanland leben, die Anerkennung eines legalen Aufenthaltstatus' zu verwehren oder zu entziehen, könnten Zehntausende von der neuen Verfügung betroffen sein.

Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisationen HaMoked und Betselem sowie der israelischen Bürgerrechtsorganisation Association for Civil Rights, den Rabbis für Menschenrechte und sieben weiteren Organisationen und Gruppen könnte die neue Regelung fast alle im Westjordanland lebenden Palästinenser bedrohen. Sollte sich dies als zutreffend erweisen, erschlösse sich für die vom Internationalen Gerichtshof (IGH) schon am 9. Juli 2004 als grobe Menschenrechtsverletzung verurteilte Errichtung der Mauer eine weitere strategische Funktion. Sie dient möglicherweise nicht allein dazu, die zu einem parzellierten Leben gezwungenen Palästinenser nach Kräften zu drangsalieren und wirtschaftlich zu schwächen, sondern würde sich ad hoc als Gefängnismauer erweisen, sollten die israelischen Besatzungsbehörden eines vielleicht gar nicht fernen Tages damit beginnen, die von ihnen mit dem Inkrafttreten der jüngsten, gegen "Infiltranten" gerichteten Verordnung geschaffenen Möglichkeiten in großem Stil administrativ umzusetzen.

Dies käme der seitens der Palästinenser seit Jahren und Jahrzehnten gefürchteten "Vollendung der Vertreibung von 1948", die die israelische extreme Rechte ohnehin offen im Munde führt, nicht nur nahe, sondern gleich. Der Druck auf die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens wurde, was dieses Szenario nicht eben unplausibler machte, in den zurückliegenden Tagen, Wochen und Monaten gleichfalls sukzessive erhöht. In der Nacht zum vergangenen Freitag flog die israelische Luftwaffe gleich 13 Angriffe gegen Ziele im Gazastreifen, wobei drei palästinensische Kinder durch Glassplitter verletzt wurden. Diese Luftangriffe, die in den internationalen Medien kaum einer Fußnote für wert befunden wurden, gab man als Reaktion auf einen palästinensischen Raketenbeschuß aus, der Sachschaden angerichtet haben soll. Die Regierung Netanjahu "warnte" die Palästinenser vor einem neuen Krieg und drohte die Intensivierung ihrer gegen die Hamas gerichteten Maßnahmen an, sollte der Beschuß nicht eingestellt werden.

Da Chalid Maschal, der Vorsitzende des Politbüros der Hamas, der nach Angaben des russischen Außenministers Sergej Lawrow, mit dem er am 31. März ein Telefonat führte, für eine Einhaltung der mit Israel vereinbarten Waffenruhe eintritt und an einer Eskalation der Spannungen nicht interessiert ist, kann nicht ausgeschlossen werden, daß eine womöglich bevorstehende Vertreibungsaktion im großen Stil gegen die palästinensische Bevölkerung des Westjordanlandes Hand in Hand gehen könnte mit einer erneuten Kriegführung gegen die im Gazastreifen eingepferchten Menschen. Träfe dies zu, wäre die "Vollendung der Vertreibung von 1948" in Angriff genommen worden, ohne daß die internationale Gemeinschaft davon Notiz genommen hätte.

[1] "Bürgerkrieg soll die Palästinenser schwächen", USA und Israel haben Verständigung zwischen Mahmud Abbas und der Hamas sabotiert. Ein Gespräch mit Leila Shahid, von Randa Achmawi, junge Welt, 20.08.2007, S. 3

19. April 2010