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DILJA/1263: Gewaltmonopol aufgekündigt - Bolivarische Volksmilizen in Venezuela (SB)


Bewaffnete Volksmacht mit staatlichem Gewaltmonopol unvereinbar

Zur Verteidigung des Landes und der Bolivarischen Revolution haben sich in Venezuela Volksmilizen konstituiert


In Barinas, einem der südlichen Bundesstaaten Venezuelas, wurde am 4. April 2010 José Salvador Rivero ermordet. Rivero war ein Aktivist der Sozialistischen Bauernfront und hatte, wie es in einer Presseerklärung der Bauernorganisation hieß, vor seiner Ermordung in der Nähe seines Wohnortes in der Gemeinde Rojas an einem Bauerntreffen teilgenommen, bei dem über Landbesetzungen in der Region gesprochen worden war. In einem weiteren Bundesstaat, Yaracuy, regten sich zur selben Zeit Proteste von Angehörigen der Bauernbewegung Jirajara, weil der Gerichtsprozeß gegen die mutmaßlichen Mörder des im Jahre 2009 getöteten Bauernaktivisten Nelsón López bereits zum fünften Mal hinausgezögert worden war. Daß dies keine Einzelfälle sind, geht aus Angaben hervor, die Elías Jaua, Landwirtschaftsminister und inzwischen auch Vizepräsident der Bolivarischen Republik Venezuela, bereits im Oktober vergangenen Jahres anläßlich einer Demonstration gegen Morde an Bauernaktivisten in der Region Llanos machte.

Jaua, Funktionär der 2007 gegründeten Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela), hatte die Gründung bewaffneter Bauernmilizen angekündigt mit den Worten: "Ich erwarte, daß wir dem Land im Dezember eine Bolivarianische Bauernmiliz vorstellen. Gewalt ist keine Lösung, aber wenn sich die Oligarchie dafür entscheidet, werden wir antworten." [1] Nach Angaben Jauas wie auch der Bauernbewegungen sind in den seit dem Amtsantritt von Präsident Chávez und damit dem Beginn der sozialen Transformation, genannt Bolivarische Revolution, vergangenen zehn Jahren über 200 Bauernaktivisten ermordet worden. Die politische wie auch strafrechtliche (Mit-) Verantwortung wird bei den Großgrundbesitzern vermutet, weil diese das Interesse haben, die von der sozialistischen Regierung initiierte Bodenreform mit buchstäblich allen zu Gebote stehenden Mitteln zu torpedieren. Da die Justiz insbesondere in den ländlichen Regionen, in denen der Einfluß der Zentralregierung nicht stark ausgeprägt ist, kaum aktiv wird gegen die Todesschwadrone der Großgrundbesitzer, wird die Verantwortung für den Schutz der bedrohten Bauernbewegung und ihrer Aktivisten nun in deren eigene Hände gelegt.

Dies geschieht keineswegs ohne gesetzliche Basis und Verankerung, hatte doch die Nationalversammlung, das venezolanische Parlament, im Oktober 2009 ein Gesetz über die Streitkräfte verabschiedet, das einen Passus enthält, durch den die Einrichtung selbständiger militärischer Einheiten auf regionaler Ebene ermöglicht wird. Diese Milizen sind organisatorisch Bestandteil der Reserve der nationalen Streitkräfte. Sie können nicht nur in ländlichen Regionen, sondern auch als Bestandteil von Betrieben, öffentlichen Institutionen und Universitäten konstituiert werden. Für ihre Finanzierung, sprich die Ausbildung sowie den Unterhalt der Milizangehörigen, wurden im Etat 2010 rund vier Millionen US-Dollar bereitgestellt. Gleichwohl ist die Errichtung bäuerlicher und weiterer Bolivarischer Milizen keine spontane Idee, sondern stellt eine Umsetzung des bereits im Jahre 2005 konstituierten Verteidigungskonzeptes dar, das zum Zwecke einer breitangelegten Volksverteidigung die Öffnung der Reserve auch für Zivilisten vorsah.

Nachdem sich, wie von Jaua angekündigt, im Dezember 2009 innerhalb der Bewegung landloser Bauern Bolivarische Bauernmilizen gebildet hatten, zogen in den darauffolgenden Wochen und Monaten dementsprechende Milizenverbände in Betrieben wie etwa dem Aluminium-Werk Alaca und an Hochschulen nach. Im November vergangenen Jahres hatte Präsident Hugo Chávez in seiner wöchentlichen Kolumne "Alo Presidente" klargestellt, in welchem Kontext die forcierte Errichtung Bolivarischer Milizen neben der von der "Frente Campesino Ezequiel Zamora", der Nationalen Bauernfront Ezequiel Zamora, seit langem geforderten Beendigung der Straflosigkeit für Morde an Bauernaktivisten steht. Unter Bezugnahme auf das zwischen dem Nachbarland Kolumbien und den USA unter Umgehung des kolumbianischen Parlaments geschlossene Militärabkommen, das den US-Streitkräften die Errichtung neuer Stützpunkte auf kolumbianischen Territorium und damit in bestmöglicher Angriffsnähe zu Venezuela ermöglicht, stellte Chávez klar, daß die neuen Milizen, bestehend auch aus Studenten, Arbeitern und Frauen, der Verteidigung Venezuelas im Falle einer drohenden US-Invasion und/oder eines Angriffs Kolumbiens dienen sollen.

Am 4. Februar 2010, dem "Tag der Würde", stellte die "Nationale Bolivarische Miliz" in einem Grundsatzpapier ihr Selbstverständnis als das einer bewaffneten Volksmacht klar. Sie definiert sich als "revolutionäre Strömung Bolivar und Zamora", was in westlichen Staaten kapitalistischen Zuschnitts als staatsfeindlich definiert werden würde mit der mutmaßlichen Konsequenz schwerster strafrechtlicher Verfolgung. In bezug auf das heutige Venezuela sind die westlichen Axiome staatlicher Herrschaft, so etwa das verfassungsrechtliche Kerngebot, das Gewaltmonopol des Staates, jedoch vollkommen unübertragbar, was sich schon daraus ergibt, daß sich in Venezuela die Regierungs(gewalt) als revolutionär versteht in Hinsicht auf die Bolivarische Revolution, die sich wie auch der amtierende Präsident, auf eine Wählerschaft und damit demokratische Basis stützen kann, die durch klare Wahlerfolge in den zurückliegenden Wahlen etwaige Zweifel an ihrer rechtsstaatlichen Legitimität zum großen Leidwesen ihrer politischen Gegner mit Leichtigkeit ausräumen kann.

Deshalb ist auch der Wortlaut des von der "Frente Nacional Campesino Ezequiel Zamora", der Nationalen Bolivarischen Bauernmiliz in Venezuela, am 5. Dezember 2009 verfaßten Textes für westliche Medienkonsumenten möglicherweise befremdlich und nur dann nachzuvollziehen, wenn mit in Betracht gezogen wird, daß sich die gewählte Regierung der Bolivarischen Republik Venezuela gemäß der Verfassung des Landes vom 24. März 2010 selbst als revolutionär versteht bzw. sich der Förderung und Wahrung des Bolivarischen Revolutionsprozesses verpflichtet sieht. So heißt es in dem Papier unter anderem [2]:

Als revolutionäre Strömung übernehmen wir den Aufbau der Nationalen Bolivarischen Miliz ausgehend von zwei grundlegenden Überzeugungen:

Dass die bewaffnete Macht des Volkes ein konstituierender Bestandteil der Volksmacht ist, für die wir kämpfen. Alle unsere Anstrengungen zielen auf die Ermächtigung des Volkes in der Bolivarischen Revolution. Wir arbeiten dafür, dass das organisierte und bewusste Volk Mechanismen aufbaut, die es ihm erlauben, die reale Macht von Unten auszuüben und als Ergebnis den neuen revolutionären Staat aufzubauen, basierend auf der Volksmacht, so wie es der Comandante Präsident Hugo Chávez proklamiert. Zusammen mit der politisch-organisatorischen, der sozio-produktiven, der politisch-rechtlichen, der ethisch-moralischen bedeutet die bewaffnete Macht des Volkes die militärische Fähigkeit, die das Volk hat oder entwickelt zur Selbstverteidigung und zur Verteidigung seiner Errungenschaften, von denen die Wichtigste die Bolivarische Revolution ist - diese Fähigkeit ist ein entscheidendes Element, damit sich die Volksmacht tatsächlich bilden kann. (...)

Dass die Bedrohung unseres Landes durch den nordamerikanischen Imperialismus real ist und sich weiter entwickelt. Als revolutionäre Strömung sollten wir nicht Opfer der Medienmanipulation sein, welche versucht die Pläne des Imperialismus gegen die Bolivarische Revolution zu banalisieren. Der Aufruf des Comandante Präsidenten, uns mit den Waffen auf die Verteidigung der Revolution vorzubereiten, ist gerechtfertigt, weil tatsächlich eine Gesamtheit von Aktionen bis hin zu Operationen in vollem Gang sind: von psychologischem Krieg grossen Kalibers bis hin zu konkreten strategischen Bewegungen, wie zum Beispiel die Installation der Militärbasen in Kolumbien, begleitet von unterstützender Infiltration durch den in Kolumbien demobilisierten Paramilitarismus, aus dem bewaffnete konterrevolutionäre Banden gebildet werden, die das Land destabilisieren (...).

Die Bolivarischen (Bauern-) Milizen (MNB) haben nicht nur die Rückendeckung und finanzielle Absicherung durch Präsident und Regierung sowie eine parlamentarische Grundlage durch das im Herbst vergangenen Jahres verabschiedete Gesetz über die Streitkräfte, denen die eigenständigen Milizen rechtlich der Reserve angegliedert sind. Gleichwohl ist dem Papier auch zu entnehmen, daß die Protagonisten der damit vollzogenen Volksbewaffnung von politischen Spannungen und Konflikten auch hinsichtlich der regulären Streitkräfte ausgehen, heißt es doch dort [2]:

Vor allem innerhalb der Nationalen Bolivarischen Streitkräfte (FANB) gibt es großen Widerstand dagegen, dass die MNB ein Instrument des bewaffneten Volkes sein sollen. Diese Sektoren geben sich alle Mühe um den Prozess der Bildung der MNB unter eiserner Kontrolle zu behalten. Sie befürchten, dass ihnen etwas aus der Hand gleitet, was jeder bürgerliche Militär hütet und als seinen prinzipiellen Auftrag betrachtet: das Monopol der Waffen. Wir erinnern daran, dass die Schule, in der unser Offizierskorps ausgebildet wurde, die Schule des bürgerlichen Staates ist, wo das Militär eine sehr konkrete Aufgabe im Herrschaftsmodell erfüllt, das diesen Staat aufrecht erhält: Die Gewalt exklusiv zu verwalten, um das ausgebeutete Volk unter Kontrolle zu halten. Und noch spezieller wurden unsere FANB unter der Sicherheitsdoktrin des Yankee-Imperialismus ausgebildet und diese ist auch bei einigen in den FANB noch sehr präsent, obwohl sie sich Chavistas oder Bolivarianer nennen.

Im westlichen Kulturkreis hat es sich eingebürgert, von einer extremen Polarisierung Venezuelas auszugehen bzw. eine solche zu unterstellen in Gestalt einer Spaltung des Landes und seiner Bevölkerung in Anhänger und Gegner der Regierung Chávez wie auch der Bolivarischen Revolution. Da diese Auseinandersetzung keineswegs eine innerstaatliche ist, wie die nur zu begründeten Befürchtungen vor einer US-amerikanischen Militäraggression unterstreichen, ist diese Lesart derselben politischen Positionierung zuzuordnen wie die einer massiven Kritik an der Errichtung "Bolivarischer Milizen", so diese auf das Argument gestützt werden, sie verletzten das Gewaltmonopol des Staates. In Venezuela herrscht ein gänzlich anderes Demokratieverständnis vor, demzufolge die Ausübung staatlicher Gewalt durch den Souverän, nämlich das Volk, legitimiert wird, was im übrigen nicht minder für das Selbstverständnis westlicher Demokratien, so auch der Bundesrepublik Deutschland, gilt.

Anmerkungen

[1] Bauernbewegung gründet Milizen in Venezuela. Demonstration gegen Morde an Bauernaktivisten, von M. Daniljuk, 3.10.2009, amerika21.de

[2] Die Nationale Bolivarische Miliz, von Frente Nacional Campesino Ezequiel Zamora, 21.3.2010, amerika21.de

23. April 2010