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DILJA/1279: Der vergessene Krieg - Unerbittliche Kurdenpolitik in der Türkei (SB)


Völlig unbeachteter Krieg der türkischen Armee in den Kurdengebieten

Die kurdische Befreiungsbewegung hat gegenüber der Türkei keine Lobby


"Die Türkei kann sich alles erlauben." Zu diesem Fazit kam eine deutsche Politikerin, die 1976 geborene Europa-Abgeordnete Feleknas Uca, schon vor eineinhalb Jahren, als zeitgleich zum Krieg der israelischen Armee gegen die durch Blockade und Grenzschließungen eingepferchte und anderthalb Millionen Menschen umfassende Bevölkerung des Gazastreifens die türkische Armee ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung fortsetzte, ohne daß dies international auch nur zur Kenntnis genommen worden wäre. Uca hatte von 1999 bis 2009 dem Europäischen Parlament als Abgeordnete der PDS bzw. Linkspartei innerhalb der GUE-NGL-Fraktion angehört und im Januar 2009 anläßlich der im Gazakrieg verübten Verbrechen der israelischen Armee auf die Doppelzüngigkeit der Türkei hingewiesen, die sich durch ihren Ministerpräsidenten Recep Erdogan zwar gegenüber den durch Israel unter stillschweigender Billigung der westlichen Welt drangsalierten Palästinensern solidarisch zeigt, gegenüber ihrem eigenen Volk jedoch - die Linksabgeordnete ist jesidische Kurdin - nicht einmal bereit ist, mit den demokratisch gewählten kurdischen Politikern im türkischen Parlament zu reden.

In einem Gespräch mit der jungen Welt hatte die Politikerin am 20. Januar 2009 auch die Europäische Union wegen ihrer widersprüchlichen Haltung kritisiert. Auf die Frage, wie sie die Rolle der EU in der Kurdenfrage bewerte, hatte Uca erklärt [1]:

Seit über einem Jahr wird die kurdische Region im Irak bombardiert, auch mit Phosphorbomben. Bis heute gab es deswegen keinen Aufschrei in der Weltöffentlichkeit - so wie es jetzt bei den israelischen Angriffen auf die Palästinenser im Gazastreifen geschieht. Doch im Falle der Kurden schweigt die EU.

Die EU hat auch die Kurdische Arbeiterpartei PKK und ihren politischen Flügel KONGRA-GEL auf die Terrorliste gesetzt. Der Europäische Gerichtshof verlangte inzwischen ihre Streichung.

Dieser Forderung des Europäischen Gerichtshofs, dies sei an dieser Stelle angemerkt, ist die Europäische Union bis heute nicht nachgekommen. Die Tabuisierung des militärischen Vorgehens der Türkei gegen die kurdische Befreiungsbewegung in Gestalt der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) besteht nach wie vor. Vorwürfe, international verbotene Waffen wie beispielsweise weißen Phosphor eingesetzt zu haben, ließen sich hinsichtlich der Gazakrieges nicht aus der Welt schaffen. Die Faktenlage war so offenkundig, daß die israelische Armee die Verwendung weißen Phosphors alsbald nicht mehr abstritt, sondern mit der wenn auch falschen Behauptung zu rechtfertigen suchte, dieser Einsatz sei rechtlich legitim. Im Falle der militärischen Angriffe des türkischen Militärs gegen die kurdischen Gebiete im Nordirak erreichten die kursierenden Meldungen und Information zu keinem Zeitpunkt einen auch nur semi-offiziellen Status, was es den Verantwortlichen ermöglichte, durch konsequentes Ignorieren die Sache auszusitzen.

Wenn dann eine couragierte Politikerin wie Feleknas Uca damit an die Öffentlichkeit zu gehen suchte, sah sie sich mit einer geballten Ladung zugespitzter Ignoranz konfrontiert. Zu einer offiziellen Untersuchung, beispielsweise durch vom Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen beauftragten Experten, kam es nicht, weil diese Meldungen gar nicht erst einen Siedepunkt erreichten, der derartige Reaktionen aus Sicht der Führungsmächte der westlichen Staaten erforderlich gemacht hätte. Mit anderen Worten: Die Türkei kann sich - gegenüber den Kurden, wie hinzuzufügen wäre - so gut wie alles erlauben. Die Linkspolitikerin wurde in besagtem Gespräch desweiteren gefragt, ob nicht die PKK auf den bewaffneten Kampf verzichten sollte, weil unter dieser Voraussetzung die EU sicherlich bereit wäre, sie von ihrer "Terrorliste" zu streichen. Dazu erklärte Uca:

Die PKK hat mehrmals einen einseitigen Waffenstillstand erklärt, sie hat jahrelang keine bewaffneten Auseinandersetzungen initiiert. Trotzdem hat die türkische Regierung darauf nicht positiv reagiert und keine Lösungsansätze vorgeschlagen. Ich lehne Gewalt ab, von welcher Seite auch immer. Gewalt darf und kann kein Mittel zur Lösung von Konflikten sein. Doch bevor man immer nur auf die Kurden zeigt, sollte man der Türkei den Spiegel vorhalten. Ich erinnere nur an Leyla Zana, die zehn Jahre im Gefängnis saß und der das Europäische Parlament 1995 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit verliehen hat. Kaum war sie aus dem Gefängnis heraus, wurde sie noch einmal mit einem Verfahren überzogen und schließlich zu 55 Jahren Haft verurteilt - nur weil sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hat.

Wenig später, im April 2009, hatte die PKK ihren inzwischen sechsten einseitigen Waffenstillstand verkündet, um einen politischen Annäherungskurs zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Bewegung nicht zu behindern. Damit hatte die seit langem verbotene kurdische Organisation auf den Wahlerfolg der (kurdischen) "Partei für eine Demokratische Gesellschaft" (DTP) reagiert, die aus den Kommunalwahlen im April 2009 in den kurdischen Landesteilen der Türkei als stärkste Kraft hervorgegangen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte die AKP-Regierung Erdogans eine gewisse Bereitschaft signalisiert, hinsichtlich der Kurdenfrage zu politischen Verhandlungen zu kommen, indem sie eine "kurdische Öffnung" propagierte. Leider wurden die daran seitens der PKK wie auch aller übrigen kurdischen Kräfte geknüpften Hoffnungen, nach einer so langen Zeit der Unterdrückung und kulturellen Mißachtung zu einer echten Demokratisierung in der Türkischen Republik kommen zu können, innerhalb weniger Monate enttäuscht.

Im Dezember 2009 wurde die DTP vom türkischen Verfassungsgericht verboten. Die Reformversprechen Erdogans erwiesen sich als so marginal, daß sie schnell als Spaltungsversuch innerhalb der Kurden entlarvt werden konnten, reduzierten sie sich doch im wesentlichen auf die Bereitschaft der türkischen Behörden, neben türkischen auch kurdische Ortsschilder aufstellen zu lassen. Gegen die kurdische Linke ging Ankara mit kaum verhohlener Härte vor. So waren im vergangenen Jahr über tausend Mitglieder der schließlich sogar verbotenen Kurdenpartei DTP verhaftet worden, immer unter dem Vorwurf, die schon zuvor verbotene PKK unterstützt zu haben. Nach dem Parteiverbot der DTP hatte sich schnell eine neue Kurdenpartei konstituiert, die "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP). Während sich Anhänger der DTP, zumeist ohne Anklage, noch immer in Haft befinden, gehen die türkischen Behörden mit unverminderter Härte gegen kurdische Aktivisten vor, die auf politischem Wege zu einer Veränderung der Lage kommen wollen. Bei Razzien im ganzen Land wurden im April rund 200 Kurden festgenommen, viele von ihnen Schüler und Studenten.

Doch auch in militärischer Hinsicht zeigt sich die Türkei von ihrer unerbittlichsten Seite. Ende März hatte die Armee in Vorbereitung ihrer Frühjahrsoffensive gegen die PKK tausende Soldaten nicht nur in die kurdischen Gebiete des eigenen Landes, sondern auch über die Grenze in den Nordirak verlegt, was die Zustimmung der USA sowie der kurdischen Regionalverwaltung im Nordirak voraussetzt. Seit Ende März wurden die militärischen Operationen seitens der türkischen Armee im türkisch-irakisch-iranischen Grenzgebiet erheblich ausgeweitet unter Einsatz von Kampfhubschraubern und Panzern. Die PKK ließ durch ihren Sprecher Murat Karayilan dazu erklären: "Wenn der türkische Staat an seinem militärischen Vorgehen und seinem Druck auf politische Akteure festhält, dann kann es keinen andauernden Frieden geben." [2] Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die kurdische Guerilla die Entscheidung darüber, ob sie ihren im Jahr zuvor bis zum 14. April 2010 erklärten Waffenstillstand verlängern wollte oder nicht, noch offengehalten.

Am 10. April demonstrierten in der westtürkischen Metropole Istanbul in Kadiköy zehntausende Menschen für eine "zivile, demokratische, pluralistische und egalitäre Verfassung". Einem Aufruf der kurdischen Partei BDP, des Gewerkschaftsdachverbandes für den öffentlichen Dienst (KESK) sowie linker Parteien folgend, hatten sie sich der Forderung nach der türkischen Verfassung von 1921 angeschlossen, die im Unterschied zu der heute gültigen, von den Militärs erlassenen kein Staatsvolk definiert und damit ein gleichberechtigtes Zusammenleben der türkischen mit der kurdischen Bevölkerung ermöglicht. Die Polizei ging mit Tränengas gegen die Demonstration vor. In den darauffolgenden Wochen wurde das gewaltsame Vorgehen der türkischen Armee in den kurdischen Kriegsgebieten immer weiter intensiviert. Im Mai kam es zu zum Teil schweren Gefechten zwischen PKK-Kämpfern und Soldaten. Die türkische Luftwaffe griff auch Ziele im Nordirak an, weil sie dort Stellungen und Rückzugsräume der PKK vermutete.

Mitte Mai nahmen wiederum Zehntausende Menschen an einer Friedensdemonstration in Diyarbakir teil, um gegen den Krieg der Armee zu protestieren. Bei Luftangriffen in der Region Dersim soll nach Angaben der kurdischen Agentur Firat weißer Phosphor eingesetzt worden sein, was sich in Ermangelung offizieller bzw. von dritter Seite durchgeführter Untersuchungen weder bestätigen noch widerlegen läßt. Türkisch-Kurdistan gleicht einer einzigen Kriegszone. Fast die Hälfte des Gebiets wurde bereits zur militärische Sperrzone erklärt, im Mai erweiterte die Armee dies noch auf weitere elf Berge. Das türkische Militär will nach eigenen Angaben im Grenzgebiet zum Iran und zum Irak zusätzliche 134 Stützpunkte aufbauen, angeblich, um ein Vordringen der PKK zu verhindern. Da im Grenzgebiet zum Iran bereits mit dem Bau einer Sperrmauer begonnen wurde, kann unterdessen nicht ausgeschlossen werden, daß der nahezu vollständig ohne Kenntnisnahme der Weltöffentlichkeit und ohne Berichterstattung in den internationalen Medien geführte Krieg gegen die Kurden auch in Hinsicht auf den möglicherweise bereits beschlossenen Krieg Israels bzw. einiger NATO-Staaten gegen den Iran eine militärstrategische Funktion erfüllt.

In der Region Tatvan-Bitlis ordnete die türkische Armee die Räumung mehrerer Dörfer an, allem Anschein nach, um eine Bombardierung des Gebietes vorzubereiten. Damit wurden unwillkürlich Erinnerungen an den türkisch-kurdischen Krieg der 1990er Jahre wachgerufen, in dem die türkische Regierung 4000 kurdische Dörfer zerstören ließ und zwei Millionen Menschen zu Vertriebenen machte. Abdullah Öcalan, der seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmara-Meer inhaftierte Vorsitzende der PKK, hat angesichts dieser Entwicklung die einzige politische Konsequenz gezogen, die ihm noch verblieb. Er erklärte offiziell die Beendigung seiner Vermittlungsbemühungen. Er stehe nicht mehr als "Vermittler" zur Verfügung, ließ Öcalan über seine Anwälte mitteilen, weil er keinen Verhandlungspartner gefunden habe. Diese Erklärung wollte der PKK-Vorsitzende nicht als Aufforderung verstanden wissen, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Die Verantwortung dafür liege, so Öcalan, nun bei den Kommandeuren der PKK.

Zeitgleich zum Angriff der israelischen Armee auf Friedensaktivisten der "Free Gaza"-Flottille im östlichen Mittelmeer, bei dem acht türkische Staatsangehörige von israelischen Soldaten erschossen wurden, flammte der verschwiegene Krieg der Türkei gegen die kurdische Guerilla wieder auf. Bei einem Angriff, der der PKK zugeschrieben wird, wurden in der Nacht zum 31. Mai 2010 auf der außerhalb der kurdischen Gebiete gelegenen Marinebasis Iskenderum sechs türkische Soldaten getötet und weitere zehn verletzt. Die historische Chance, in der Zeit des insgesamt sechsten, von der PKK erklärten Waffenstillstands zu Verhandlungen in Hinsicht auf eine politische Beilegung des Kurdenkonfliktes zu kommen, wurde durch die Unerbittlichkeit der türkischen Regierung bzw. der türkischen Armee vertan. Von kurdischer Seite hieß es dazu in einer am 2. Juni veröffentlichten Erklärung des Dachverbandes der Vereinigten Gemeinden Kurdistans (KCK), daß "die AKP-Regierung und der türkische Staat ihre Politik zur Eliminierung der kurdischen Freiheitsbewegung fortgesetzt" hätten.

Anmerkungen

[1] "Die Türkei kann sich alles erlauben". Alle Welt spricht von dem Massaker Israels in Palästina, Phosphorbomben auf Kurden werden aber ignoriert. Gespräch mit Feleknas Uca, von Alexander Bahar, junge Welt, 20.01.2009, S. 2

[2] Türkische Frühjahrsoffensive. Türkische Armee verlegt Tausende Soldaten in die kurdischen Landesteile, von Nick Brauns, junge Welt, 01.04.2010, S. 7

9. Juni 2010