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DILJA/1285: Repräsentanz oder Partizipation - In Venezuela keine theoretische Frage (SB)


Volksmacht - Ein Volk regiert sich selbst

Im heutigen Venezuela wird seit über zehn Jahren an einer gesellschaftspolitischen Utopie gearbeitet


"Poder Popular" - hinter diesem in Venezuela gebräuchlichen spanischsprachigen Ausdruck verbirgt sich eine gesellschaftspolitische Utopie und gleichermaßen ein Konzept zu deren Verwirklichung, die sich nicht so ohne weiteres in den deutschsprachigen Raum und das hiesige Verständnis der damit angesprochenen politischen Kernfragen übersetzen läßt. Zwar ließe sich Poder Popular wörtlich genommen durchaus mit dem Begriff "Volksmacht" ins Deutsche übertragen, doch in Hinsicht auf die Klärung der fundamentalen Bedeutung, die diesen Worten in Venezuela in dem dortigen Entwicklungsprozeß, benannt als Bolivarianische Revolution, zukommen, wirft "Volksmacht" im deutschsprachigen Raum eher weitere Fragen zum Begriffsverständnis auf. So könnte beispielsweise eingewendet werden, daß sich jede Demokratie, da dies die Herrschaft des Volkes (über sich selbst) zu sein vorgibt, genauso gut auch als "Volksmacht" bezeichnen ließe. Durch eine solche Auslegung des Begriffs würde allerdings dessen spezifische Bedeutung im heutigen Venezuela verlorengehen.

Ein weiterer Einwand könnte in der Frage: "Klingt Volksmacht nicht irgendwie nach DDR?" ihren Ausdruck finden, und schon wäre das nächste Faß ungeklärter Grundsatzfragen und historischer Diskussionen geöffnet, in der Anspruch und Wirklichkeit der beiden deutschen Staaten gegeneinandergestellt und in umfangreichen Erörterungen diskutiert werden müßten, um überhaupt erst einmal durch präzise Definitionen, Bewertungen, Abgrenzungen und Stellungnahmen klarzustellen, was eigentlich genau meint ist, wenn von "Volksmacht" die Rede ist, wobei die Gefahr besteht, daß Interessierte sich in einer Endlosschleife derartiger Positionierungen bis zur Erschöpfung abarbeiten, noch bevor die anfangs gestellte und sehr konkret gemeinte Frage nach der Volksmacht (Poder Popular) Venezuelas überhaupt thematisiert wurde.

Eine erste Annäherung an das Thema ließe sich durch die Begriffe "Repräsentanz" und "Partizipation" vornehmen, die selbstverständlich auch in den hiesigen Deutungsgebrauch übertragen und vor dem Hintergrund der spezifischen deutschen Geschichte geklärt werden müssen, um Fehlinterpretationen vorzubeugen. Die Bundesrepublik Deutschland gilt als eine repräsentative und nicht als eine partizipative Demokratie, womit gemeint ist, daß das (Wahl-) Volk und damit der eigentliche Souverän des Staates diese Souveränität auf allen drei Ebenen des föderalen Systems durch die Wahl seiner Repräsentanten (Abgeordneten) wahrnimmt. Eine direkte Beteiligung der Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß ist bis auf geringfügigste Ausnahmen, beispielsweise bestimmte plebiszitäre Elemente auf kommunaler Ebene, schon im Grundgesetz nicht vorgesehen.

Wer nach den Gründen fragt, wird auf die historische Schuld des deutschen Volkes verwiesen, das den Diktator und Drahtzieher des Zweiten Weltkrieges 1933 schließlich zum Reichskanzler gewählt hat und damit, zumindest aus der Sicht nachträglicher Betrachter, seine demokratische Unreife unter Beweis gestellt hat. Im Nachkriegsdeutschland wurde deshalb, quasi um die deutsche Bevölkerung vor sich selbst wie auch die potentiellen Opfer etwaiger weiterer Kriege zu schützen, ein repräsentatives System entwickelt, das ein abermaliges Abgleiten zu Faschismus und Krieg schon im Ansatz verhindern können sollte. Da seitdem zu keinem Zeitpunkt den deutschen Wählern grundlegende Partizipationsrechte zugestanden oder von diesen erkämpft wurden, gab es bislang auch noch keine Gelegenheit, die einmal gezogene Schlußfolgerung durch ein strikt an den Leitbildern von Demokratie und Frieden orientiertes Wählerverhalten zu widerlegen.

Das Beispiel Venezuelas könnte deshalb von besonderem Interesse sein, um gerade auch in Hinsicht auf die politische Realität der Bundesrepublik Deutschland Weichenstellungen und Tabuzonen zu benennen und zu hinterfragen, immer getragen von der Frage nach der Verwirklichung der auch hier beanspruchten Werte von Frieden und Freiheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. In Venezuela hat der dortige Präsident, der erstmals am 6. Dezember 1998 in dieses Amt gewählte Hugo Chávez, anläßlich des achten Jahrestages des gegen ihn durchgeführten, wenn auch nach nur zwei Tagen rückgängig gemachten Putsches vom 8. April 2002 davor gewarnt, daß Teile der politischen Opposition - Chávez spricht hier von der Oligarchie - noch immer Pläne zum gewaltsamen Sturz der gewählten Regierung sowie zu seiner Ermordung verfolgen würden.

Dies hat mehr mit "Poder Popular", also der Macht des venezolanischen Volkes zu tun, als es zunächst den Anschein hat und plausibel zu sein scheint. Im Falle einer gewaltsamen Machtergreifung durch die alten Eliten des Landes, sprich die aus Unternehmern und führenden Medienkonzernen bestehende Oligarchie, müsse die revolutionäre Bewegung Venezuelas, so Chávez im April dieses Jahres, die gesamte Macht im Land ergreifen und die Bourgeoisie aus allen politischen und wirtschaftlichen Bereichen vertreiben. Die Revolution müsse - im Einklang mit der Verfassung Venezuelas - "radikalisiert und vertieft" werden. Damit stellt der amtierende und im In- und Ausland sehr wohl umstrittene Präsident auf politische Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen ab, die dem seitens seiner Gegner vorgehaltenen Bild eines wenn auch redegewandten Autokraten widersprechen.

In Venezuela wird seit geraumer Zeit daran gearbeitet, eine direkte Selbstverwaltung, um nicht zu sagen Selbstregierung des Volkes in die Realität umzusetzen und zu diesem Zweck neben dem bestehenden, noch aus der Zeit ungehemmter kapitalistisch strukturierter Verwertung stammenden und diese Gesellschaftsrealität widerspiegelnden Staatsapparat eine parallele Struktur aufzubauen, in der strikt die Grundsätze der gesellschaftlichen Partizipation und nicht die der Repräsentation eingehalten werden. Die Initiative zu dieser Entwicklung, die man als "Demokratie von unten" bezeichnen könnte, wenn man dabei nicht Gefahr liefe, durch den fortgesetzten Gebrauch von Worten wie "unten" und "oben" die damit transportierten Herrschaftsverhältnisse fortzuschreiben, anstatt sie aufzulösen, kam keineswegs von Präsident Chávez und der von ihm geführten Regierung, sondern von der sogenannten "Basis".

2005 hatten sich in Venezuela erste "Consejos Comunales" - zu deutsch: Kommunale Räte - gebildet. Das sind, aus etwa 200 bis 400 Familien bestehende, kleine Einheiten politischer Assoziation, aber auch der Entscheidungsfindung. Sie bestehen zumeist in den Stadtteilen größerer Städte, so unter anderem auch in den Barrios der Hauptstadt Caracas, aber auch in bäuerlichen Gemeinden. Inzwischen gibt es in ganz Venezuela rund 30.000 solcher Nachbarschaftsräte, in denen die Entscheidungen über das, was das unmittelbare Zusammenleben und die konkreten Fragen im Stadtteil betrifft, nicht von Delegierten oder staatlich beauftragten Experten, sondern stets nur auf Vollversammlungen getroffen werden (dürfen).

Diese Räte dürfen mit hiesigen Gemeindeversammlungen, die die unterste Stufe eines streng hierarchisch aufgebauten Systems exekutiver und legislativer Gewalt darstellen, nicht verwechselt werden. Dem bundesdeutschen Staatsaufbau durchaus vergleichbar besteht auch in Venezuela eine vertikale Dreigliederung zwischen Nationalstaat, den einzelnen Bundesstaaten und einer kommunalen Ebene bestehend aus Gemeinden, mit Bürgermeistern und Rathäusern. Doch daneben, und keineswegs "darunter", weil in größtmöglicher Unabhängigkeit im Aufbau befindlich, wird seit 2006 auf gesetzlicher Grundlage die Entwicklung einer partizipativen Struktur vorangetrieben, die nach Auffassung auch der Zentralregierung eines Tages den alten Staat überwinden und an seine Stelle treten soll.

Dies ist selbstverständlich noch Zukunftsmusik, doch eine bereits so fundierte Entwicklung, daß sich die verzweifelten Versuche der Opposition, die Regierung Chávez, die diese Entwicklung explizit fördert und voranzutreiben sucht, zu stürzen, nicht zuletzt auch damit erklären ließen. Aus Sicht der Chávez-Gegner, die selbstverständlich auch Gegner der Bolivarianischen Revolution sind, kommt erschwerend hinzu, daß dieser Entwicklungsprozeß immer stärker auch mit dem Begriff Sozialismus in Verbindung gebracht wird. In manchen Comunas - rund 200 von ihnen sind in Venezuela seit Ende 2009 im Aufbau - wird bereits heftigst, über die unmittelbaren Fragen konkreter Projektentwicklung hinaus, die Frage diskutiert, wie eine Entwicklung zum Sozialismus zu bewerkstelligen sei.

Dies dürfte aus der Sicht jener kapitalistischen Welt, die schon glaubte, sich ihrer "roten" Herausforderer mit der Selbstauflösung des Sowjetsozialismus sowie der Zerschlagung alternativ-sozialistischer Modelle wie dem der der Blockfreienbewegung angehörenden Bundesrepublik Jugoslawien, endgültig entledigt zu haben, eine bedenkliche Entwicklung darstellen. Denn das exakte Gegenteil scheint der Fall zu sein und dies keineswegs deshalb, weil in Venezuela nach einer vergleichsweise kurzen Zeit von rund elf Jahren, unbezweifelbare Ergebnisse bei dem Abbau von Armut und der Entwicklung sozialer Rechte erzielt wurden, sondern hier ein Demokratisierungsprozeß im ursprünglichsten Sinn des Wortes eingeleitet wurde, der durch die Lebendigkeit, mit der die ihn tragenden Menschen ihn voranzutreiben suchen, ein Beispiel abgeben, das die Sachwalter tradierter Herrschaftsverhältnisse fürchten müssen wie der Teufel das Weihwasser.

17. Juni 2010