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DILJA/1295: Krieg dem US-Verbündeten Pakistan? "Enthüllungen" liefern Steilvorlage (SB)


Soll der unerklärte Drohnenkrieg gegen Pakistan "offiziell" gemacht werden?

Spektakulär präsentierte "Enthüllungen" über den Afghanistankrieg liefern Steilvorlage zur Diskreditierung des US-Verbündeten


Derzeit geistert mit der Veröffentlichung angeblich geheimer Dokumente der US-Truppen über den Krieg in Afghanistan eine Enthüllungsstory durch den Blätter- und Internet-Wald, deren Ungereimtheiten die Frage begründet erscheinen lassen, ob mit dieser sensationell aufbereiteten und zeitlich minutiös abgestimmten Medienkampagne womöglich nicht andere Zwecke als die zunächst ersichtlichen und greifbaren verfolgt werden könnten. In der Nacht vom 25. auf den 26. Juli veröffentlichte die 2006 ins Leben gerufene und auf die Bekannt- und Weitergabe geheimer, aus anonymen Quellen stammender Dokumente spezialisierte Internet-Plattform WikiLeaks über 90.000, wie es zunächst hieß, brisante Dokumente der US-Streitkräfte über den Krieg in Afghanistan. Wenig später wurde die berichtigende Information verbreitet, daß lediglich 75.000 der WikiLeaks vorliegenden Dokumente online gestellt worden seien, weil die übrigen noch nicht hinreichend geklärt seien.

Diese in jedem Fall gewaltige Daten-, Informations- und Dokumentenmenge wurde zu diesem Zeitpunkt nicht nur durch das Internetportal veröffentlicht, sondern, allem Anschein nach in einer konzertierten Aktion, zeitgleich durch drei führende westliche Medien verbreitet. Der deutsche "Spiegel", der britische "Guardian" sowie die US-amerikanische "New York Times" waren schon einige Wochen zuvor der Ehre für wert befunden worden, das immense Material einer ersten Sichtung und Überprüfung zu unterziehen. Die seit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung kolportierte Story zur Story besagt, daß eine noch immer unidentifizierte Quelle, die allem Anschein nach im US-Militär oder den Geheimdiensten zu vermuten sein dürfte, die umfangreiche Datenmenge WikiLeaks zugänglich gemacht hat, woraufhin das Internetportal diese an die drei genannten Zeitungen weitergab, bis alle vier - zeitgleich - mit der vermeintlichen Sensation auf den Markt kamen.

Bei dem Material soll es sich um Berichte und Meldungen aus der Truppe aus dem Zeitraum zwischen 2004 und 2009, genauer um unredigierte Rapporte unterer Dienststellen und US-Soldaten, handeln, die laut Spiegel ein "düsteres Bild" vom Krieg in Afghanistan zeichnen. Ein düsteres Bild gewinnt allerdings ohnehin jeder, der sich mit diesem Krieg zu befassen beginnt, und nicht einmal die Einschätzung, daß es um diesen Konflikt aus Sicht der westlichen Besatzungsstreitkräfte in diesem Jahr schlechter denn je bestellt ist, wovon die rapide steigende Angriffs- und Opferzahlen eine beredte Sprache sprechen, hat einen echten Neuigkeitswert. Todesopfer unter afghanischen Zivilisten, die Angriffen der NATO zum Opfer gefallen sind, füllen die Nachrichtenkanäle schon so lange, wie dieser Krieg geführt wird, ohne daß dies je aus Sicht der Regierungen, die ihn zu verantworten haben, zu größeren Rechtfertigungsproblemen gegenüber den eigenen Bevölkerungen geführt hätte.

Nüchtern betrachtet erscheint die mediale Aufregung um diese "Enthüllungen", die in erster Linie durch die hohe Zahl der vorliegenden Dokumente zu beeindrucken scheinen und nicht unbedingt durch die in ihnen verborgenen Informationen und Hinweise, etwas unverhältnismäßig zu sein. So hieß es beispielsweise bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung [1]:

Insgesamt enthält das veröffentlichte Material keine Erkenntnisse der höchsten Geheimhaltungsstufe. Seine Brisanz erhält es vielmehr durch das detaillierte Mosaik an Fakten, die bisher nur in Umrissen bekannt waren. Dazu gehört neben den Verstrickungen des pakistanischen Geheimdienstes auch die Tatsache, dass die unbemannten Flugzeuge, die sogenannten Drohnen, nicht immer die Wunderwaffen sind, als die sie präsentiert werden.

Gleichwohl zeigte sich das Weiße Haus umgehend ungehalten. James Jones, der Sicherheitsberater von Präsident Barack Obama, ließ in einer ersten Reaktion verlautbaren, daß die USA aufs Schärfste die Veröffentlichung von Geheiminformationen verurteilen würden. Ein solches Vorgehen würde "das Leben der Amerikaner und ihrer Partner gefährden und unsere nationale Sicherheit bedrohen" [2], so Jones, der von einem "unverantwortlichen Leck" sprach. Da das Material dem Vernehmen nach von einer anonymen Quelle weitergegeben worden sein soll und erste Reaktionen der US-Regierung recht harsch ausfielen, muß doch wohl außer Frage stehen, daß diese Veröffentlichung ohne das Wissen und gegen den Willen der US-Regierung getätigt wurde.

Den Medienberichten zufolge sollen die Dokumente umfangreiche Hinweise auf eine Verstrickung des pakistanischen Geheimdienstes ISI enthalten, dem der Spiegel attestierte, der "vermutlich wichtigste außerafghanische Helfer der Taliban" [2] zu sein. An anderer Stelle hieß es zwar auch, daß der pakistanische Geheimdienst die Taliban in Afghanistan unterstützen würde, doch wurde dies vor allem auf Berichte zurückgeführt, die aus den Jahren 2004 bis 2007 stammen sollen [3] und insofern nicht mehr die aktuelle Lage widerspiegeln dürften. Swiss.info wies zudem darauf hin, daß dem ISI eine direkte Verbindung zum "Terrornetzwerk Al Kaida" dabei nicht habe nachgewiesen werden könne. Wie im Schattenblick bereits gestern berichtet [4], hatte das Weiße Haus per E-Mail unter dem Titel "Gedanken zu WikiLeaks" ein Memo an Journalisten geschickt, in dem das Internetportal als eine Organisation bezeichnet wurde, die gegen die Afghanistan-Politik der USA opponiere. Desweiteren wurde zu den Inhalten der veröffentlichten Datenberge Bezug genommen, wobei der Schwerpunkt nicht auf die vermeintlichen Enthüllungen über die prekäre Lage der Truppen vor Ort, auch nicht über die höher als bislang bekanntgegebene Zahl ziviler Todesopfer, sondern auf die "Sorgen" gelegt wurde, die sie, die US-Regierung, sich über die Rolle des pakistanischen Geheimdienstes in der Region mache.

Um die Relevanz dessen zu untermauern, war der E-Mail eine Liste mit dementsprechenden Zitaten diverser Regierungsmitglieder angefügt worden. Als weitere Belege veröffentlichte das Weiße Haus mehrere Dokumente, darunter ein Schreiben von Verteidigungsminister Robert Gates vom 31. März 2009, in dem dieser bereits die Kontakte zwischen den Aufständischen in Afghanistan und dem pakistanischen Geheimdienst als eine "echte Sorge" [5] der USA bezeichnet hatte. Den jetzt kolportierten Dokumenten zufolge, für deren Authentizität Spiegel, Guardian und New York Times (!) bürgen, sollen die pakistanischen Agenten dabei sein, wenn sich die Aufständischen zum Kriegsrat treffen oder Mordaufträge erteilen, so beispielsweise gegen den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai. Angesichts einer so breit angelegten internationalen Medienfront hat die pakistanische Seite so gut wie überhaupt keine Möglichkeit, sich und ihren Standpunkt in dieser für das Land hochbrisanten Angelegenheit zu Gehör zu bringen.

Allein deshalb, weil sich die US-Regierung über den Fakt der Veröffentlichung der angeblich geheimen Dokumente höchst verärgert und ungehalten zeigte, wird ganz allgemein die Schlußfolgerung gezogen, daß der tatsächliche Wahrheitsgehalt der darin enthaltenen Informationen über jeden Zweifel erhaben und eine Überprüfung durch die drei besagten namhaften westlichen Medien Garant genug sei, um die Frage, ob in einer Zeit, in der Kriege immer auch an der Medienfront geführt werden, nicht auch ein solches (Medien-) Ereignis mit Vorsicht zu genießen sein müßte, verneinen zu können. Daß die USA über das auf diese Weise gezeichnete "düstere Bild" verärgert sind, mag ja angehen, doch kann deshalb ausgeschlossen werden, daß auf diese Weise eine vermeintliche Tatsache in die internationale Medienwelt implantiert werden soll, die auf anderen Wegen kaum einen derartigen Wahrheitsgehalt erreichen könnte?

Husan Haqqani, Botschafter Pakistans in den USA, hatte die Veröffentlichung der mutmaßlichen Dokumente ebenfalls als "unverantwortlich" bezeichnet und abgelehnt, dies jedoch damit begründet, daß sie nicht die "tatsächlichen Gegebenheiten" widerspiegelten [6]. In der westlichen bzw. internationalen Medienwelt konnte die US-amerikanische Sicht der Ereignisse jedoch schon so weit implementiert werden, daß kein Medienorgan noch die Frage aufwirft, ob der Standpunkt der pakistanischen Regierung nicht zutreffend sein könnte bzw. ob diese Frage nicht einer näheren Untersuchung bedürfe, weil Aussage gegen Aussage stünde. Die "London School of Economics" (LSE) hatte bereits im Juni eine Studie erstellt, in der behauptet wurde, der pakistanische Geheimdienst lasse den Taliban Geld, Waffen und Ausbildung zukommen, woran die Einschätzung geknüpft wurde, daß die afghanische Regierung wie auch die NATO-geführten Truppen in Afghanistan so lange auf verlorenem Posten stünden, bis Pakistan seine Haltung grundlegend ändere [6].

Auf keineswegs leisen Sohlen wird damit, wie zu befürchten steht, der mediale Boden bereitet, um den Afghanistan-Krieg auf Pakistan und damit einen Verbündeten der USA auszudehnen. Aus pakistanischer Sicht hätten Regierung und Bevölkerung seit langem Grund genug, an der Haltung ihres US-amerikanischen Verbündeten zu zweifeln, überzieht dieser doch das Land entgegen der Proteste seiner Regierenden mit einem nicht erklärten Drohnen-Krieg. Der Einsatz unbemannter, mit Raketen bestückter Flugkörper gegen Ziele im Nordwesten Pakistans wurde im August 2008 unter Präsident George Bush erheblich ausgeweitet. Dabei wurden nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 900 und über 1000 Menschen getötet [7]. Unter Präsident Barack Obama wurde diese verschwiegene Art der Kriegführung noch fortgesetzt, weshalb der Verdacht, die USA würden ihren "Verbündeten" in die Rolle eines weiteren Kriegsgegners manövrieren und - gegen dessen Willen - drängen wollen, nicht auszuschließen ist, zumal der territoriale Raumgewinn im längerfristigen strategischen Interesse der ambitionierten Weltmacht läge.

Anmerkungen

[1] Brisante Geheimdokumente. Einblicke in die bittere Realität des Krieges, Hannoversche Allgemeine, 26.07.2010,
http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Einblicke-in-die-bittere-Realitaet-des-Krieges

[2] Geheimdokumente zeichnen düsteres Bild zu Afghanistan-Krieg, zeitong.de, 26.07.2010,
http://www.zeitong.de/ng/da/2010/07/26/geheimdokumente-zeichnen-duesteres-bild-zu-afghanistan-krieg/

[3] Wirbel um WikiLeaks-Geheimdokumente zum Afghanistan-Krieg, swissinfo.ch, 26.07.2010,
http://www.swissinfo.ch/ger/news/newsticker/international/Geheimdokumente_zeigen_schlechte_Lage_im_Afghanistan-Krieg.html?cid=18048712

[4] WikiLeaks zu Afghanistan - Späte Einsicht oder nächste Verschleierung? "Enthüllungen" für ein bislang ignorantes Publikum,
Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> REDAKTION: ASIEN/681

[5] Brisante Dokumente zeichnen düsteres Bild von Afghanistan, Neue Zürcher Zeitung, 26.07.2010,
http://www.nzz.ch/nachrichten/international/afghanistan_wikileaks_1.6882811.html

[6] WikiLeaks enthüllt die geheimen Terrorhelfer der Taliban, dnews.de, 26.07.2010,
http://www.dnews.de/nachrichten/politik/273280/wikileaks-enthullt-geheimen-terrorhelfer-taliban.html

[7] Unerklärter Krieg gegen Pakistan. Hunderte Tote bei Drohnenangriffen. Clintons Drohungen gegen Islamabad angeblich "Mißverständnis", von Knut Mellenthin, junge Welt, 14.05.2010, S. 6

27. Juli 2010