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DILJA/1299: Die Bolivarianische Republik Venezuela verliert einen engagierten Kritiker (SB)


Das Bolivarianische Venezuela verliert einen seiner schärfsten wie auch solidarischsten Kritiker

Zum Tode des früheren Vizepräsidenten der regierenden "Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas" (PSUV), Alberto Müller Rojas


Im Alter von 75 Jahren verstarb am vergangenen Freitag in Venezuela der ehemalige Vizepräsident der regierenden "Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas" (PSUV), Alberto Müller Rojas. In seiner allwöchentlichen Kolumne widmete Präsident Hugo Chávez dem langjährigen Weggefährten bewegte Worte und rief dazu auf, sich an ihm als einem unermüdlichen Kämpfer für die Bolivarianische Revolution und den Sozialismus in Venezuela ein Vorbild zu nehmen. Der Verstorbene war ein entschiedener Kritiker, jedoch nicht Gegner des bolivarianischen Prozesses Venezuelas. Um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle angemerkt, daß er nicht das mindeste mit der sogenannten Oligarchie, der traditionellen Rechten des Landes gemein hatte, die mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Ausland alles, aber auch wirklich alles in ihrer Macht Stehende unternommen hat bzw. zu unternehmen bereit ist, um die 1999 mit dem Amtsantritt des jetzigen Präsidenten Hugo Chávez eingeleitete Entwicklung zu stoppen, die bisherigen sozialen wie demokratischen Errungenschaften zunichte zu machen und das Land wieder zurück in die eigenen Hände zu manövrieren.

Der ehemalige General und langjährige Politiker Alberto Müller Rojas war über Jahrzehnte hinweg in linken Parteien aktiv gewesen. Er ist nicht unbedingt ein "Chavista" der ersten Stunde, hatte jedoch bereits 1997 mit einem Teil der als links geltenden Partei "La Causa R" die sozialdemokratische Partei "Patria Para Todos" (PPT) gegründet. Diese Partei gehört noch heute wie auch die "Kommunistische Partei Venezuela" (PCV) zu den mit der Regierungspartei PSUV ("Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas") verbündeten Partnerparteien und hatte Chávez bereits 1998 unterstützt und zu seinem Wahlerfolg bei der Präsidentschaftswahl beigetragen. Anfang 2008 hatte Präsident Chávez den nun verstorbenen Alberto Müller Rojas zum Vizepräsidenten der PSUV ernannt, der er selbst als Präsident vorsteht. In der Parteihierarchie - wenn dieser Begriff überhaupt angemessen ist - bekleidete Müller Rojas direkt hinter Chávez somit den zweithöchsten Posten.

Müller Rojas galt als entschiedener Verfechter der Bolivarianischen Revolution. Sein Engagement ließ ihn zu einem der härtesten Kritiker werden, der quasi aus dem Regierungs- und Parteiapparat heraus den führenden Köpfen dieser Entwicklung die Leviten las und zu Kritik und Selbstkritik aufrief aus tiefer Sorge darüber, daß durch Versäumnisse und Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen die am 26. September bevorstehenden Parlamentswahlen in einem Fiasko enden könnten. Als Mitglied der Nationalen Leitung der Partei hatte Müller Rojas Ende Januar auf einem Außerordentlichen Parteitag der PSUV in seinem Beitrag zur parteiinternen Grundsatzdebatte die "Bürokratisierung" in der venezolanischen Gesellschaft angeprangert und diesem Problem gerade auch in Hinsicht auf die richtungsweisenden Septemberwahlen eine größere Brisanz eingeräumt als den vorhersagbaren Störmanövern und Diskreditierungs- und Destabilisierungsbemühungen der rechten Gegnerschaft: "Heute müssen wir die bürokratische Praxis mehr fürchten als die Aktionen von Teilen der Opposition." [1]

Nun läßt sich insbesondere auch aus dem westlichen Ausland nicht ad hoc nachvollziehen, was mit politischen Begriffen wie "Korruption" und "Bürokratismus" in einem Land wie Venezuela tatsächlich gemeint ist. Dem hiesigen Konsumenten einer eher indifferent gehaltenen Berichterstattung werden sie durchaus vertraut vorkommen, werden sie doch politischen Blaupausen gleich bei allen nur denkbaren Problemfällen und Lebenslagen, politischen Mißständen und Fehlentwicklungen an- und ins Feld geführt, um durch eine allzu schnelle Antwort auf noch gar nicht gestellte und unter diesen Voraussetzungen auch nicht entwickelbare Fragen zum fortgesetzten störungsfreien Ablauf administrativer Vorgänge beizutragen. Nun mag Bestechlichkeit von Amtsträgern hier wie dort ein Problem darstellen, dem im Ernstfall auch mit strafrechtlichen Mitteln zu Leibe zu rücken sei, doch läßt ein solches, allzu schnelles Verstehen die Tatsache außer acht, daß im heutigen Venezuela ein Prozeß eingeleitet wurde, der aus einer repräsentativen Demokratie, wie sie dem politischen System in der Bundesrepublik Deutschland durchaus vergleichbar wäre, eine partizipative zu entwickeln im Begriff steht.

Die bisherigen Erfolge der Regierung Chávez auf die unbestreitbaren Errungenschaften bei der Bekämpfung von Armut, medizinischer Mangelversorgung und vielem anderen zu reduzieren, hieße, diese Entwicklung, für die es im internationalen Vergleich kaum ein weiteres Beispiel gibt, unter den Tisch zu kehren. Diese Entwicklung ist keineswegs abgeschlossen, sie steckt womöglich erst in ihren Kinderschuhen, und dennoch birgt sie einen politischen Sprengstoff in sich, der zu einer gewissen Polarisierung innerhalb der bolivarianischen Bewegung geführt hat. In diesem Sinne geht es, um dies noch einmal zu unterstreichen, nicht um den Kernkonflikt zwischen rechter Opposition und einer sozialistischen Regierung, die, eng verzahnt mit den Basisbewegungen des Landes, eine Entwicklung vorantreibt, an deren Ende die Auflösung des bestehenden Staatsapparates stehen soll zugunsten einer Volksmacht, die ihre Geschicke vollständig in die eigenen Hände nimmt.

Volksmacht, in Venezuela "Poder Popular" genannt, entspräche der faktischen Umsetzung der Idee einer partizipativen Demokratie, bei der die Beteiligung des Volkes und damit des eigentlichen Souveräns so weit getrieben wurde, daß administrative Strukturen eines repräsentativen Systems überflüssig geworden sind. Es liegt auf der Hand, daß auch in Venezuela die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft ein langwieriges Unterfangen ist, in dessen Verlauf und konfliktreicher Umsetzung das Problem egoistischer Partikularinteressen immer deutlicher zu Tage tritt und eine Bremswirkung zu entfalten imstande ist, die das Gelingen des Gesamtprojektes sehr wohl infrage zu stellen vermag. Sorgen und Überlegungen dieser Art mögen auch Alberto Müller Rojas dazu veranlaßt haben, der "Bürokratisierung" in den eigenen Reihen den Kampf anzusagen und seine Mitstreiter wachzurütteln mit Worten, die ihm nicht nur Anerkennung eingebracht haben dürften.

Als Vizepräsident der PSUV regte er auf einem Parteikongreß im Februar an, die Repräsentanten der Partei sollten sich als eine "vorübergehende Erscheinung" und nicht als eine "Elite" [2] begreifen. In dem Disput zwischen traditionellem Politik- und Demokratieverständnis auf der einen und dem Kampf um eine echte Demokratie in Gestalt der Volksmacht (Poder Popular) auf der anderen Seite nahm er eindeutig Stellung für letzteres. Müller Rojas griff die von vielen Basisorganisation schon seit langem vorgebrachte Kritik an der Schwerfälligkeit des Regierungsapparates auf und warnte die Parteifunktionäre und Regierungs- wie Parlamentsrepräsentanten davor, den Kontakt zur Basis vollends zu verlieren. Mahnend sprach er ihnen ins Gewissen, nicht mit taktischen Manövern vor den Septemberwahlen die eigene Beliebtheit aufbessern zu wollen und sagte voraus, daß die PSUV bei einer solche Herangehensweise die Quittung ihrer (bisherigen) Wähler bekommen würde.

Nach Auffassung Müller Rojas' hat die Bevölkerung längst einen Stand des Bewußtseins, der politischen Reife und praktizierten Teilhabe erreicht, der sie immun gegen wahltaktische Ränke und Wahlversprechen macht, wie seiner folgenden Argumentation zu entnehmen ist [2]:

Unter den gegenwärtigen Umständen sollten die "Avantgarden" jeglichen Versuch unterlassen, den Willen des Volkes zu manipulieren. Nicht nur, weil die nationale Leitung der PSUV und die auf den verschiedenen Ebenen der Regierung direkt gewählten Amtsinhaber den Bezug zur Basis verloren haben, sondern vor allem, weil die Kader, die für die Bewegung stehen, sich ihrer Macht bewusst sind. Ein derartiges Verhalten würde als Volksaufwiegelung begriffen werden. Genauso, wie es dem vorherigen Regime unter der Vorherrschaft der Sozialdemokratie ergangen ist. Wie vorher die bürgerliche Minderheit, haben die Volksbewegungen, die heute die Mehrheit bilden, die Vormundschaft über die Regierung. Allerdings lässt sich diese Volksmacht nicht einfach aus ihrer bloßen Existenz herleiten.

Sie hat ihren Ursprung in einer Weisheit, die aus den Erfahrungen der Jahre 1989, 1992 und 1998 sowie aus den jüngsten der Jahre 2002 und 2003 resultiert. Heute weiß diese Führung um ihre Fähigkeit, Regierungen am Leben zu halten oder zu Fall zu bringen. Mit Sicherheit würde ein derartiges Verhalten, gepaart mit Ineffizienz in der Ausübung öffentlicher Ämter, die schon vorhandene Neigung zur Stimmenthaltung erhöhen, und so das Voranschreiten in Richtung Sozialismus als Gegenkultur zum Kapitalismus gefährden. Offensichtlich wird damit aber nicht die erneute Kandidatur derjenigen Abgeordneten verhindert, die in der gegenwärtigen Nationalversammlung vertreten sind, einem Parlament, in dem sich die liberale Kultur der Repräsentation erhalten hat.

Dieser Beitrag Müller Rojas' steht stellvertretend für auch innerparteiliche Auseinandersetzungen in der PSUV sowie im gesamten Regierungsapparat, deren Ende noch offen ist. Jüngsten Umfragen zufolge wird das Regierungsbündnis ungeachtet all dieser Spannungen und Auseinandersetzungen einen 55- bis 60prozentigen Wahlerfolg erreichen können, woraus geschlußfolgert werden kann, daß die venezolanische Bevölkerung mehrheitlich sich bereits viel zu tief mit dem Bolivarianischen Revolutionsprozeß verbunden fühlt, als daß sie angesichts der immensen Schwierigkeiten, Rückschläge und Erfolge bereit wäre, das Rad der Geschichte vollends zurückdrehen zu lassen zu Verhältnissen, in denen eben diese Menschen vom politischen Geschehen vollends ausgeschlossen waren und bis heute geblieben wären.

Anmerkungen

[1] Grundsatzdebatte vor Parlamentswahlen in Venezuela. Prominente Persönlichkeiten des Regierungslagers kritisieren Bürokratismus und Fehlentwicklungen, von M. Daniljuk, amerika21.de, 03.02.2010

[2] Repräsentation oder Poder Popular, Einwurf von Alberto Müller-Rojas auf dem PSUV-Kongress, von M. Daniljuk, amerika21.de, 17.02.2010 (Internetportal aporrea vom 23. Januar 2010)

17. August 2010