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DILJA/1374: Mit Militär den Hunger bekämpfen? Europa will in Somalia Krieg führen (SB)


Der Hungertod wütet in Somalia - geplant wird eine militärische Piratenjagd


Vor vier Monaten, am 5. September 2011, warnten die Vereinten Nationen vor der Hungersnot in Somalia, dem neben Kenia, Äthiopien und Dschibuti am stärksten von der in Ostafrika herrschenden Dürre betroffenen Land. Nach UN-Angaben hat sich die Hungersnot in Somalia auf die Hälfte des Südens ausgeweitet, womit inzwischen vier der insgesamt acht Regionen betroffen sind in einem Land, dessen vier Millionen Menschen zählende Bevölkerung seit langem unter Hunger zu leiden hat. Die vor vier Monaten aktuelle Warnung der UN beinhaltete, daß in den kommenden, also inzwischen verstrichenen vier Monaten 750.000 Menschen vom Hungertod bedroht seien. Vier Tage später, am 9. September 2011, trat das UN-Kinderhilfswerk UNICEF mit gleichsam alarmierenden Zahlen und Warnungen an die Öffentlichkeit und erklärte, daß nach neuesten Schätzungen allein in Somalia 450.000 Kinder unter fünf Jahren akut mangelernährt sind und daß sich 190.000 von ihnen bereits in lebensbedrohlichem Zustand befinden.

Wie UNICEF Anfang September in Köln verlautbarte, sind in den vorangegangenen Monaten bereits zehntausende Menschen in Somalia Hungers gestorben - "vermutlich war jedes zweite Opfer ein Kind". [1] In den meisten Gebieten Südsomalias befände sich jedes sechste Kind in Lebensgefahr. Am Horn von Afrika, neben Somalia in einigen Regionen von Äthiopien, Dschibuti, Kenia und Uganda, litten insgesamt 12,4 Millionen Menschen am Mangel von Nahrungsmitteln. Die Dürre dieses Jahres, die als eine der schwersten seit Jahrzehnten gilt, wird als Erklärungsnotstand bemüht für ein massenhaftes Sterben und Dahinsiechen von Menschen, die in einer Region geboren wurden, deren Realität nicht annähernd in dem Maße durch klimatische oder sonstige, scheinbar schicksalhafte Bedingungen und Verhältnisse bestimmt wird, wie es in der westlichen Welt und Medienlandschaft gern glauben gemacht wird.

Der afrikanische Kontinent hat seit der formalen Dekolonialisierung seiner Länder nie die geringste Chance gehabt, sich von dem Erbe der Kolonialzeit zu befreien. Die westlichen Kolonialmächte zogen sich, nachdem sie Land und Leute ausgeraubt und beplündert und "verbrannte Erde" hinterlassen hatten, in ihre Sphären eines relativen Wohlstandes zurück. Wären sie als unmittelbar angreifbare Okkupanten vor Ort präsent geblieben, hätten sie sich mit immer aufwendigeren und ihre Kosten-Nutzen-Kalkulationen belastenden Mitteln ihrer Haut erwehren müssen gegen Aufstandsbewegungen, die den kontinentweiten Ruf nach Befreiung vom Joch kolonialer Raubherrschaft mit aller zu Gebote stehenden Schlagkraft zur Durchsetzung zu verhelfen gewillt waren. Zu keinem Zeitpunkt ist es in den Beziehungen zwischen den alten Mächten und den nach und nach in die Unabhängigkeit "entlassenen" jungen Staaten Afrikas zu einer tatsächlichen Stunde Null und einem Neuanfang gekommen, bei dem die angeblich ehemaligen Räuber in gebotener Demut angefragt hätten, auf welche Weise, falls dies gewünscht werde, sie dazu beitragen könnten, die von ihnen in den zurückliegenden Jahrzehnten und Jahrhunderten angerichteten Schäden und Zerstörungen zu beheben oder zumindest zu minimieren.

Welch ein Narr, der so etwas dächte in einer Welt, die, so es um die Interessendurchsetzungen der in ihr dominanten Mächte und Staaten geht, sehr viel vom Geschäft der Schulden und Wiedergutmachungsleistungen versteht. Die afrikanischen Staaten hingegen fanden sich übergangslos und nahezu erzwungenermaßen in der Rolle von Bittstellern wieder, die nach den Gesetzen des sogenannten Weltmarktes, die niemals die ihren waren, ebenso hoffnungslos verarmt wie verschuldet waren und deren politischen Repräsentanten zumeist gar keine andere Wahl hatten, so sie das eigene Überleben und ein Minimum an Lebensmöglichkeiten für ihre Bevölkerungen erwirken wollten, als nach der Pfeife derjenigen zu tanzen, die über Entwicklungshilfe, Kredite und etwaige Hilfsleistungen verfügten.

Vor diesem Hintergrund läßt sich unschwer verdeutlichen, warum die Hungersnot in den ostafrikanischen Staaten nicht monokausal auf eine Dürre, wie extrem diese auch immer in Erscheinung getreten sein mag, zurückgeführt werden kann bzw. in wessen Interesse eine solche Zuordnung vollzogen wird. Wenn Somalia in den Schlagzeilen und Meldungen auftaucht, dann in den allerseltensten Fällen in Hinsicht auf den dort wütenden Hungertod. Das größte Interesse, das die westlichen Staaten an Somalia bzw. dem, was vom kaum noch als existent zu bezeichnenden somalischen Staat noch übrig ist, entgegenbringen, ist die Bekämpfung der Piraterie. So zumindest wird die militärische Präsenz westlicher Eingreiftruppen argumentativ präsentiert. Die Europäische Union hat eine, wie es in ihrer Sprache heißt, Antipiratenmission namens ATALANTA nach Somalia entsandt, deren Einsatzbefugnisse nun auch auf den Einsatz von Bodentruppen an Land ausgeweitet werden sollen.

Wie ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums am 29. Dezember in Berlin bestätigte, sei das Oberkommando von ATALANTA angewiesen worden, den Operationsplan sowie die Einsatzregeln dementsprechend zu modifizieren [2], nachdem das Politische wie auch das Sicherheitspolitische Komitee der Europäischen Union (PSK) sich "mit der Zerstörung von Piraterielogistik am Strand" befaßt habe. Dabei stellt der Ausdruck "Piratenjagd am Strand" einen Euphemismus dar für eine Ausweitung der bisherigen Kampfeinsätze in einen Beinah-Bodenkrieg, dessen Adressaten in erster Linie in den heimischen Gefilden zu vermuten sein dürften, um innerhalb der EU-Staaten eine ausreichende Akzeptanz bzw. Gleichgültigkeit für diesen Krieg unter europäischer und auch bundesdeutscher Beteiligung zu erzeugen. Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, erklärte dazu gegenüber der Deutschen Welle: "Es ist zwar richtig, daß die Piraterie letztlich nur in Somalia besiegt werden kann. Dazu bedarf es aber eines einigermaßen stabilen Staates."

Dieses Argument könnte auf den ersten Blick vielleicht noch einleuchten, so man sich vorstellt, daß mit "robusten" Mitteln die Verteilung der so dringend im Land benötigten Nahrungsmittel gesichert werden müßte. Doch worauf, wenn nicht auf substanzloser Spekulation oder purem Wunschdenken, beruft sich die Annahme, dies sei in angemessenem Umfang überhaupt geplant und damit von den führenden westlichen Staaten gewollt und beabsichtigt? Steht nicht zu befürchten, daß die Kriegs- und Kampfhandlungen zwischen den verschiedenen Akteuren, Organisationen und Regionalmächten des Landes selbst sowie den militärischen Kräften, die aus den umliegenden Staaten bereits nach Somalia eingerückt sind, Hunger- und Verteilungskämpfe sind, zu denen es in Folge des extremen Nahrungsmangels gekommen ist? Käme die Intensivierung und Ausweitung des militärischen "Engagements" der Europäischen Union in dieser Lage nicht sogar dem gleich, weiteres Öl ins Feuer zu gießen auf der Basis von Interessen und Absichten, die weder in Brüssel, Berlin oder Paris offengelegt werden?

Erkennbar ist zumindest, daß die politische Lage in Somalia, so gut es irgend geht, im Sinne der westlichen Staaten unter Kontrolle gehalten werden soll. Dies beinhaltet, dafür Sorge zu tragen, daß die als islamistisch geltende Al-Schabab weder durch Wahlen noch auf sonstigem Weg an die Macht gelangen kann. Al-Schabab hat im August 2011 ihre militärischen Einheiten aus der Hauptstadt Mogadischu abgezogen, um zu ermöglichen, daß eine Versöhnungskonferenz, auf der es um einen Plan für demokratische Wahlen gehen sollte, dort stattfinden konnte. Nach einer 2004 vereinbarten Übergangsregelung war die Abhaltung allgemeiner und freier Wahlen zunächst für 2009 geplant gewesen, was 2010 jedoch auf 2012 verschoben wurde. Im Oktober marschierten kenianische Truppen in den Süden Somalias ein, wo sie noch heute stehen, ohne ihrem Ziel, die islamische Al-Schabab zu vertreiben, näher gekommen zu sein.

Inzwischen stehen drei weitere afrikanische Staaten - Äthiopien, Uganda und Burundi - mit eigenen Truppen in Somalia, das mehr und mehr zu einem Bürger- und Interventionskriegsland wird. Ende Dezember wurde auf einer von den Vereinten Nationen unterstützten Konferenz beschlossen, die Abhaltung allgemeiner und freier Wahlen abermals zu verschieben - und zwar, wenn überhaupt, auf das Jahr 2016. Die in Mogadischu herrschende "Übergangsregierung", die keinerlei demokratische Legitimation aufweist, hat unterdessen in den nächsten vier Wochen jedes Zusammentreffen des Parlaments verboten. Sollten sich die Abgeordneten nicht daran halten, werden sie von den Sicherheitskräften daran gehindert, sich zu treffen. All dies ist in den Augen der westlichen, postkolonialen Welt ebensowenig ein nennenswertes Thema wie der allgegenwärtige Hunger, zu dessen Bekämpfung keine nennenswerten Maßnahmen ergriffen werden. Schlimmer noch steht zu vermuten, daß der Krieg in Somalia am Leben erhalten werden soll, um eine Sachzwanglogik für die militärische Einfriedung dieser Elendsregion aufrechtzuerhalten.

Anmerkungen

[1] UNICEF warnt vor Kindersterben, junge Welt, 10.09.2011, S. 6

[2] EU plant Krieg gegen somalische Piraten, junge Welt, 30.12.2011, S. 1


2. Januar 2012