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DILJA/1403: Kollateralalter (SB)


Das Ruhestandsversprechen platzt - Wenn arme Alte zu "Straftätern" werden...



Mit einer gewissen Hartnäckigkeit und Faktenresistenz hält sich allem Anschein nach in der Bundesrepublik Deutschland das gesellschaftliche Versprechen, im Alter auf ein ausreichendes Auskommen hoffen und vertrauen zu können. Dabei häufen sich in den Medien längst Meldungen und Berichte, die eine andere Sprache sprechen und den Finger in dieses Tabu legen, doch anscheinend wollen die wenigsten wirklich wissen, wie es um eine offensichtlich steigende Zahl älterer Menschen bestellt ist, die ungeachtet der bestehenden Renten- und sozialen Sicherungssysteme finanziell nicht über die Runden kommen und denen es am Allernotwendigsten mangelt. Die Gründe für die Tabuisierung und Beschönigung einer solchen sozialen Realität liegen auf der Hand, würde doch aller Voraussicht nach deren schonungs- und rückhaltlose Aufdeckung bei der bloßen Feststellung der Misere kaum stehenbleiben, sondern unmittelbar in Forderungen nach Gegenmaßnahmen einmünden, oder, sollten diese ausbleiben, die Entwicklung einer Protest- oder Widerstandsbewegung befördern, da immer mehr Betroffene und Noch-nicht-Betroffene realisieren, wie es um die sozialen Verhältnisse hierzulande tatsächlich bestellt ist.

André Schulz, der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), hat vor wenigen Tagen einigen Unmut auf sich gezogen durch seinen öffentlich vorgebrachten Vorschlag, ein speziell auf Senioren zugeschnittenes Strafrecht zu entwickeln. Gegenüber der Hamburger Morgenpost am Sonntag legte Schulz dar, daß inzwischen bereits sechs Prozent der Tatverdächtigen älter als 60 Jahre seien - bei steigender Tendenz. Daß 70 Prozent der mindestens 60jährigen Tatverdächtigen Ersttäter seien, hält der BDK-Vorsitzende für bemerkenswert und einen "Indikator für steigende Altersarmut" [1]. Mit dieser Aussage allerdings dürfte der Hamburger Kriminalhauptkommissar aus Sicht der Bundesregierung in ein Fettnäpfchen getreten sein, bemüht diese sich doch seit geraumer Zeit darum, die Misere gerade auch der älteren Menschen wenn nicht zu verleugnen, so doch erheblich zu beschönigen.

Otto Wulff, 80 und Vorsitzender der CDU-Senioren-Union, nannte den BDK-Vorschlag für ein Extra-Senioren-Strafrecht schlicht "Stuss" und führte zur Begründung an, die Schuldfähigkeit sei nicht an Lebensjahre gebunden, während Thomas Silberhorn, Unions-Obmann im Rechtsausschuß des Bundestages, der den Vorschlag ebenfalls ablehnte, damit argumentierte, daß das Strafrecht schon genügend Möglichkeiten böte, auf die besonderen Lebenslagen Tatverdächtiger zu reagieren [1]. Aus dem Bundesjustizministerium wurde dazu verlautbart, daß das Strafrecht schon heute den Richtern auferlege, die spezifischen Folgen eines Urteils für die Betroffenen "beispielsweise hinsichtlich bestehender oder künftig eintretender Krankheiten" zu berücksichtigen, außerdem gäbe es in den größeren Gefängnissen längst Abteilungen für Senioren [1].

Die Beklommenheit, die einen Kriminalbeamten beschleichen kann, wenn er gegen Menschen jenseits des von Erwerbsfähigkeit und damit auch gesellschaftlicher Verwertbarkeit bestimmten Lebensabschnitts vorgehen muß, will er nicht Gefahr laufen, seine dienstlichen Pflichten zu mißachten, wird durch Erklärungen und Stellungnahmen dieser Art kaum verschwinden. Das Gegenargument, es gäbe in vielen Haftanstalten bereits Einrichtungen, in denen auf die spezielle Situation älterer Menschen eingegangen werde, könnte in diesem Zusammenhang wie Hohn oder Realsatire wirken, wenn die Zweifel daran, wieso mit den repressiven Mitteln einer Strafjustiz, die zu einem wesentlichen Bestandteil dem Schutz der gesellschaftlichen Eigentumsordnung gewidmet ist, gegen Menschen vorgegangen werden muß, die aus purer Not und oftmals verschämt die ihnen zur Last gelegten Gesetzesbrüche begangen haben, sogar schon die im Polizei- und Justizapparat Tätigen umtreiben.

Eine klare Zäsur im Renten- und Sozialsystem zu fordern, ausgerichtet auf eine deutliche Verbesserung der finanziellen Lage all derjenigen, die am unteren Rand der Gesellschaft leben oder auch in dem demographischen Bauch einer verarmten Mittelschicht, wäre eine logische Schlußfolgerung. Eine solche Forderung zu stellen, hieße allerdings zu ignorieren, daß die soziale Notlage gerade auch älterer Menschen nicht aus heiterem oder düsterem Himmel über diese hineingebrochen ist, sondern einen kausalen Zusammenhang zur Armuts- und Sozialpolitik aufweist. Wie sehr die Bundesregierung darum bemüht ist, die durch ihre Maßnahmen sogar noch forcierte Umverteilung gesellschaftlicher Werte von unten nach oben, sprich die Verschärfung der sozialen Schere zwischen arm und reich, schönzureden, hat sich Ende November vergangenen Jahres herausgestellt, als ihr alle vier Jahre erscheinender, jüngster Armuts- und Reichtumsbericht herausgegeben wurde.

Bei einem von der Süddeutschen Zeitung vorgenommenen Vergleich zwischen einer vom Bundesarbeitsministerium erstellten Fassung und der von der Bundesregierung zensierten Version vom 11. November 2012 hatte sich herausgestellt, daß kritische Formulierungen der Beamten des Bundesarbeitsministeriums aus dem Bericht gestrichen worden waren. So habe beispielsweise in der Fassung des Arbeitsministeriums ursprünglich gestanden, daß die Lohnentwicklung im oberen Bereich in den zurückliegenden zehn Jahren positiv ansteigend gewesen sei, während die unteren Löhne preisbereinigt gesunken seien. Die Einkommensspreizung habe zugenommen, so der Entwurf, was das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung verletze. Auch die in der Einleitung enthaltene Feststellung, daß die Privatvermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt seien, sei nach Angaben der Süddeutschen Zeitung ersatzlos gestrichen worden. Dafür habe es dann in der zensierten Version geheißen, daß die sinkenden Reallöhne Ausdruck struktureller Verbesserungen am Arbeitsmarkt seien.

Gemessen an der Kaufkraft sollen die Renten in Deutschland seit dem Jahr 2000 um ein Fünftel zurückgegangen sein, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion Der Linken am 13. Oktober 2012 hervorgegangen ist. Diese schleichende Rentenkürzung habe in den ostdeutschen Bundesländern 22 Prozent und in den westlichen fast 17 Prozent betragen, was den Parteivorsitzenden der Linken, Bernd Riexinger, seinerzeit gegenüber der Thüringer Allgemeinen zu der Schlußfolgerung veranlaßte, daß, sollte die Bundesregierung die Abwärtsspirale bei den Renten nicht stoppen, vor allem im Osten Deutschlands eine Lawine von Altersarmut bevorstünde. Die Bundesregierung allerdings scheint nicht die geringsten Anstalten zu machen, dieses Problem überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, wie von Riexinger gefordert, die faktischen Rentenkürzungen rückgängig zu machen.

So stellte das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) am 18. Dezember 2012 ein von seinem Wissenschaftlichen Beirat erstelltes Gutachten zum Thema Altersarmut vor. In einer Pressemitteilung des Ministeriums vom selben Tag hieß es dazu [2]:

Der Beirat stellt fest: Altersarmut ist derzeit kein allgemeines gesellschaftliches Problem. Armutsgefährdet sei heute eher die junge Generation. Eine wesentliche Ursache seien unzureichende Erwerbsbiographien. Maßnahmen, die die Qualifizierung und Integration in den Arbeitsmarkt fördern, seien daher am ehesten geeignet, die Altersarmut an der Wurzel zu packen.

Wie Betroffene im Rentenalter davon profitieren können sollen, wenn Maßnahmen "zur Qualifizierung und Integration in den Arbeitsmarkt" ergriffen werden, ist ein noch nicht gelüftetes Geheimnis. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie wird zur Klärung dieser Frage sicherlich nichts beizutragen haben, da seiner Einschätzung nach Altersarmut derzeit gar kein gesellschaftliches Problem sei. In seinem Gutachten sprach sich das Expertengremium denn auch gegen gesetzliche Zusatzrenten aus, befürwortete allerdings aktuelle Vorschläge für eine ergänzende, private Altersvorsorge. Eine solche kapitalgedeckte Absicherung würde das Rentensystem "nachhaltiger und robuster" machen, wobei allerdings zu berücksichtigen sei, daß die Anreizeffekte für nicht Erwerbstätige, möglichst bald ein neues Beschäftigungsverhältnis einzugehen, sorgsam abzuwägen wären [2]. Hier klingt, unschwer zu übersehen, die Pauschalbezichtigung an die Adresse der Leistungsberechtigten an, die, so die Unterstellung, nicht willens wären zu arbeiten - weshalb sonst müßten "Anreize" geschaffen werden?

Armut im Alter, so der Wissenschaftliche Beirat, gäbe es in Deutschland vergleichsweise selten [3]. Als wirklich arm gelten nur diejenigen, die auf die Grundsicherung - Sozialleistungen für Rentner und Erwerbsunfähige zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 380 Euro plus anteiliger Mietkosten - angewiesen seien, was nur auf 2,6 Prozent der über 65jährigen zuträfe. Auch in Zukunft werde es, dem Beirat zufolge, keine Probleme mit der Altersarmut geben. Die Armutsgefährdung, die von den Statistikern bei einem Einkommen, das unter 60 Prozent des Medianeinkommens liegt, angenommen wird, würde zwar bis zum Jahr 2030 durch die Senkung des Netto-Rentenniveaus zunehmen, doch deshalb gäbe es ja Gegenmaßnahmen wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters sowie die Förderung der privaten Altersvorsorge. Wie verarmte Menschen in der Lage sein sollen, wenn ihre Bezüge kaum zum Notwendigsten reichen, die Kosten einer privaten Altersvorsorge aufzubringen, ist nur einer von vielen logischen Brüchen in diesem Zusammenhang.

Ungefähr zur selben Zeit wie das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie kam ein Bericht der regierungsunabhängigen Nationalen Armutskonferenz (NAK) heraus, die vom Deutschen Gewerkschaftsbund und diversen Wohlfahrtsverbänden getragen wird. In diesem Papier wurde die soziale Lage älterer Menschen gänzlich anders dargestellt. Demnach befinden sich heute fast doppelt soviele Menschen im Alter in der Grundsicherung wie noch im Jahre 2005. Da die Armutsquote seitdem konstant zwischen 14 und 16 Prozent liege, so das in dem NAK-Bericht gezogene Fazit, sei die Armut, die mit den niedrigen Hartz-IV-Sätzen und dem ausufernden Niedriglohnsektor einherginge, "politisch gewollt" [3].

Längst sieht die soziale Realität in Deutschland so aus, daß immer mehr Menschen einfach nicht über die Runden kommen. Viele Familien und in zunehmendem Maße auch Rentnerinnen und Rentner sind auf Tafeln und Sozialkaufhäuser angewiesen, die beispielsweise in Mecklenburg- Vorpommern im Dezember vergangenen Jahres einen regelrechten Boom verzeichneten. Rund 80.000 Menschen in sozialer Notlage erhielten auf diesem Wege die Unterstützung, für deren zuverlässige Erbringung eigentlich staatliche Stellen verantwortlich wären in einem Sozialstaat wie der Bundesrepublik Deutschland. Was aber, wenn die auf dem Engagement ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer beruhende Unterstützung noch immer nicht ausreicht und Menschen sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als "straffällig" zu werden?

Die vorgeschützte Ignoranz gegenüber dieser Not findet auch ihren medialen Niederschlag. Als eine Rentnerin um ein wenig Feuerholz willen in einem Supermarkt einen Diebstahl begehen wollte, blieb einem Zeitungsbericht zufolge unklar, ob dies "aus Not" geschehen sei [4]:

Eine 72-Jährige versucht, in einem Bad Wörishofer Supermarkt mehrere Säcke Brennholz zu stehlen. Diese Meldung aus dem Polizeibericht vom Dienstag verwundert zunächst. Elektronikartikel, Parfüm oder andere wertvolle Konsumgüter sind doch sonst eher das Ziel von Ladendiebstählen. Dazu kommt, dass Brennholz nicht gerade ein leichtes Diebesgut ist. Im konkreten Fall hatte das Diebesgut ein Gesamtgewicht von 60 Kilogramm, berichtet einer, der mit dem Fall vertraut ist.
Steckt dahinter vielleicht mehr? War es vielleicht der verzweifelte Versuch, den hohen Heizkosten Herr zu werden. Jetzt, wo sich der Winter noch einmal von seiner frostigen Seite zeigt? Der Ladendetektiv stellte die 72-Jährige zur Rede, zum Tatmotiv sagte sie nichts. Ob es eine Tat aus Not war, bleibt also unklar. Jetzt erwartet sie eine Anzeige, wegen eines Warenwerts von etwa 14 Euro.

Welch einen Grund für einen Diebstahl von Brennholz im Gegenwert von 14 Euro als den, eben diese 14 Euro nicht zu haben, könnte es wohl noch geben? Und wieviel Ignoranz gehört dazu, um verwundert zu sein, wenn eine 72jährige in einer für sie hochnotpeinlichen Situation, vom Ladendetektiv zur Rede gestellt, keine Antwort gibt auf eine solche Frage nach dem Offensichtlichsten?

Ende Oktober vergangenen Jahres verlangte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin eine gerechtere Besteuerung und führte zur Begründung an, daß durch die von der Bundesregierung betriebene Politik den Vermögenden enorm geholfen werde, beispielsweise durch niedrige Steuern und Maßnahmen zur Bankenrettung. Wie DIW-Präsident Wagner gegenüber dem Sender MDR Info erklärte, sei nicht einzusehen, warum Vermögende nicht höhere Steuern zahlen sollten. Diesem frommen Wunsch schlossen sich zu Weihnachten auch die Großkirchen an, die ein wachsendes Wohlstandsgefälle beklagten und die Reichen zu mehr Solidarität mit den Armen aufforderten. Steuererhöhungen für Reiche und Vermögensabgaben dürften, so Erzbischof Robert Zollitsch, der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz, kein Tabu sein, wenn es gelte, gesellschaftlich wichtige Aufgaben zu erfüllen.

Appelle und Forderungen dieser und ähnlicher Art haben ein Einlenken oder Umschwenken der Bundesregierung bislang noch nicht bewirken können. Sie greifen ins Leere, so sie unterstellen, die politisch Verantwortlichen wüßten vielleicht nicht, was sie tun. Kommt es zu keiner massiven Gegenwehr seitens all jener, auf deren Rücken die Reichtumspolitik Deutschlands ausgetragen wird, läßt sich die soziale Not im Lande, die keineswegs bei ein paar wenigen Familien anfängt und ebensowenig bei einer vernachlässigbar kleinen Gruppe älterer Menschen aufhört, auch weiterhin ignorieren und verschweigen.

Anmerkungen:

[1] http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1358491060630

[2] http://www.bmwi.de/DE/Presse/pressemitteilungen,did=543098.html

[3] http://www.heise.de/tp/artikel/38/38234/1.html

[4] http://www.augsburger-allgemeine.de/mindelheim/72-Jaehrige-stiehlt-Brennholz-weil-das-Geld-nicht-mehr-reicht-id23559576.html


5. Februar 2013