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DILJA/1433: Elend gut sortiert ... (SB)



Niemand müsse in Deutschland hungern oder frieren, ohne ein Dach über dem Kopf sein Auskommen fristen oder eine sonstige Not erleiden, lautet das sozialstaatliche Kernversprechen. Doch die Realität ist eine gänzlich andere. Soziale Sicherungsleistungen sind zu einem Herrschaftsinstrument par excellance avanciert, indem sie an Bedingungen geknüpft werden, die die faktisch zu Bittstellern degradierten Bürger zu erfüllen haben. Eine zusätzliche Portion behördlicher Willkür sorgt stets dafür, daß sich die in Abhängigkeit gebrachten und in ihrem Überlebenskampf atomisierten Individuen ihrer Lage nie wirklich sicher sein können.

Mit der Agenda 2010 wurde das Herrschaftsinstrument Sozialstaat auf eine neue Stufe gehoben, bot sie doch den Behörden, die nun in aller Offenheit nach der Maxime "Fordern und Fördern" agierten, ein breites Spektrum an Maßnahmen, mit denen Antragstellende bedroht, bezichtigt und bestraft werden können bis hin zum völligen Entzug der Unterstützungsleistungen. Dabei würde die Existenz eines einzigen Menschen, der nicht über ausreichend Essen, Kleidung und eine Wohnmöglichkeit verfügt, genügen, um das Sozialstaatsversprechen zu demaskieren und dessen eigentliche Funktion, die Bevölkerung durch ein ausgefeiltes Belohnungs- und Bestrafungssystem teil- und beherrschbar zu halten, offenzulegen.

Im Extremfall können Menschen alles verlieren, was sie zuvor in ihrem als normal geltenden gesellschaftlichen Leben für selbstverständlich gehalten haben: eine berufliche Tätigkeit mit einem bestimmten finanziellen Einkommen sowie, etwa beim Verlust des Arbeitsplatzes, dementsprechende Ersatzleistungen, und natürlich ein Dach über dem Kopf. Wer all dies nicht mehr hat und ein Leben in verschärfter Abhängigkeit von minimalsten Zuwendungen zu führen gezwungen ist, kann sich der behördlichen Willkür ebenso sicher sein wie der Verachtung, wenn nicht offenen Gewalt anderer Menschen.

Durch Medienberichte über die tragischen Schicksale obdachlos gewordener Menschen wird die gesellschaftlich vorherrschende Haltung, sich von ihnen zu distanzieren bis hin zu dem unausgesprochenen Vorwurf, sie würden durch ihre Existenz die Gemeinschaft schädigen, noch befördert. Weit verbreitet ist zudem die Auffassung, die Betroffenen hätten sich ihre Misere selbst zuzuschreiben. Der Tod Obdachloser auf deutschen Straßen, die durch die Maschen eines im übrigen angeblich gutfunktionierenden Sozialsystems gefallen wären, gereicht der herrschenden Ordnung und ihren Funktionseliten keineswegs zum Vorwurf. Er läßt sich, ganz im Sinne des "Forderns und Förderns", in das von Staat, Gesellschaft und Medien etablierte Bezichtigungs- und Sanktionssystem integrieren.

Nachdem beispielsweise am 16. August am Berliner Nollendorfplatz der 54jährige Obdachlose Josef M. tot aufgefunden worden war, hieß es in der Hauptstadtpresse, viele Menschen hätten sich um ihn gekümmert, er sei jedoch "beratungsresistent" gewesen. Das Hilfssystem, das Menschen ohne Arbeit und ohne Wohnung wie ihn auffangen wolle, habe ihn nicht erreichen können, weil er sich nicht habe helfen lassen wollen. Josef M. hatte wenige Monate vor seinem Tod gegenüber der Berliner Zeitung gesagt: "Ich bin total fertig und kann nicht mehr." [1] Bei ihm war bereits Monate zuvor eine lebensbedrohliche Erkrankung festgestellt worden, doch habe er infolge seiner Alkoholabhängigkei niemals länger in einem Krankenhaus oder einer Einrichtung des betreuten Wohnens bleiben können. Obwohl er krankenversichert gewesen sei, habe man ihn nicht behandelt, so sein Vorwurf. [2]

Daß den Betroffenen scheinbar individuell zuzuschreibende Probleme wie eine Alkoholabhängigkeit wesentlich plausibler als Folge oder Begleiterscheinung unerträglicher Lebensverhältnisse aufgefaßt werden könnten, liegt auf der Hand. Doch auch die Bundesregierung erklärte im Dezember vergangenen Jahres anläßlich einer von der Linkspartei gestellten Anfrage, Wohnungslosigkeit läge vielfach nicht in fehlendem Wohnraum begründet, sondern habe "in der Regel eine Reihe anderer sozialer und zum Teil auch psycho-sozialer Ursachen". [3]

In Politik, Gesellschaft und Medien wird die generalisierte Behauptung, die Betroffenen hätten den Verlust ihrer Wohnung aufgrund ihres individuellen Verhaltens selbst bewirkt, faktenresistent gegenüber der seit Jahren eklatanten Wohnungsnot aufrechterhalten. Dabei läßt sich der Mangel an bezahlbaren Wohnungen nicht abstreiten. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Mauerwerks- und Wohnungsbau e.V. fehlten 2012 in Deutschland vier Millionen Sozialwohnungen, weshalb nur jeder fünfte finanzschwache Haushalt überhaupt eine Chance auf eine Sozialmietwohnung hatte. [4]

Nach aktuellen Angaben von Bundesbauministerin Barbara Hendricks wurden in den zurückliegenden vier Jahren rund eine Million neue Wohnungen gebaut, womit allerdings die Nachfrage nach Wohnraum, wie es in einer Pressemitteilung der Bundesregierung vom 5. Juli 2017 hieß, keineswegs gedeckt werden könne. In ihrem Bericht zur Lage auf dem Wohnungsmarkt bestätigte die Regierung, was längst bekannt ist, nämlich daß vor allem preiswertere, bezahlbare Wohnungen fehlen und der Wohnraummangel vor allem in den Städten zu steigenden Mieten geführt hat, weshalb auch Haushalte mit mittlerem Einkommen unter Druck geraten sind. Bis 2020 müßten pro Jahr rund 350.000 Wohnungen und 80.000 Sozialwohnungen zusätzlich neu gebaut werden, so Hendricks. [5] Doch heißt "müßten" auch, daß dies als verbindliche Zusage, sollte die große Koalition weiterregieren, zu verstehen ist?

Eine amtliche Statistik über Obdachlosigkeit wird in Deutschland nicht geführt. Das Bundessozialministerium stützte sich im Dezember bei seiner Antwort auf eine Anfrage der Linken auf Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe und erklärte, die Zahl der Wohnungslosen sei auf rund 335.000 - darunter 29.000 Kinder - gestiegen, was gegenüber 2010 ein Anstieg um 35 Prozent sei. Die BAG geht nicht davon aus, daß in naher Zukunft ausreichend Wohnraum geschaffen und weitere Zwangsräumungen wirksam verhindert werden könnten, rechnet sie doch für 2018 sogar mit einem weiteren Anstieg wohnungsloser Menschen - wozu auch diejenigen gezählt werden, die ohne Mietvertrag in Wohnungen auf Kosten des Staats, in Notunterkünften oder Heimen untergebracht oder bei Verwandten untergekommen sind - auf über eine halbe Million (536.000). [3]

Dieser in Medien, Politik und Öffentlichkeit kaum thematisierte Wohnungsmangel würde auch höhere Belastungen des sozialen Sicherungssystems, das allerdings schon seit Jahren den Anforderungen nicht gewachsen ist, nach sich ziehen. In einer Studie von Wissenschaftlern des Instituts für Sozialwissenschaften sowie Stadt- und Regionalsoziologie der Berliner Humboldt-Universität wurde im April 2015 festgestellt, daß die öffentlichen Hilfen für räumungsbedrohte Mieter dringender denn je sind, daß aber das Hilfssystem aufgrund des Spardrucks nicht mehr angemessen auf die Wohnungsnotlagen reagieren kann. [6]

Längst ist das mit der Agenda 2010 geschaffene Sanktions- und Zuteilungssystem mit einer Wohnraummangelverwaltung eine Kooperation zu Lasten der Betroffenen eingegangen. Durch die Hartz-IV-Gesetze kann der drohende Verlust der eigenen Wohnung als zusätzliches Druck- und Bestrafungsmittel eingesetzt werden. Der Fall eines Mannes, der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II erhalten hatte, ist dafür exemplarisch. Das Jobcenter hatte die ihm als Alleinlebendem zustehenden Bezüge inklusive der Kosten für Unterkunft und Heizung gekürzt mit der Begründung, er würde mit einem anderen Menschen zusammenwohnen. Der Beschwerde des Jobcenters gegen die Entscheidung des Sozialgerichts, dem Betroffenen einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren, weshalb ihm zunächst die höheren Kosten für Alleinstehende zu zahlen seien, hatte das Landessozialgericht stattgegeben, das Bundesverfassungsgericht jedoch entschied zugunsten des Hartz-IV-Empfängers.

Das höchste deutsche Gericht rügte die Auffassung der Behörden und Gerichte, daß keine Wohnungs- und Obdachlosigkeit drohe, solange keine Räumungsklage erhoben worden sei. Von nun an müßten, um Hartz-IV-Empfängern die Wohn- und Heizkosten zu kürzen, die "konkreten negativen Folgen für die Betroffenen" geprüft werden. Die Beurteilung dieser Frage dürfe nicht schematisch erfolgen, so der Tenor der Karlsruher Entscheidung, an die sich bestenfalls vage Hoffnungen knüpfen lassen. "Bundesverfassungsgericht stärkt Rechte von Hartz-IV-Empfängern", titelte Zeit online und zitierte aus der Entscheidung, daß "die eigene Wohnung ein wichtiger Bestandteil des sozialen Existenzminimums" sei, wozu auch gehöre, "möglichst" in der gewählten Wohnung zu bleiben. [7] Ein kategorisches Nein für Sanktionen, durch die Mieter obdachlos werden, ist das nicht.

Schon seit Jahren wird von Experten die Kritik geäußert, durch Hartz IV würden die Betroffenen nicht geschützt, sondern in eine verschärfte Armut bis hin zur Obdachlosigkeit gedrängt. Am vergangenen Freitag gingen die Freien Wohlfahrtsverbände mit der an die künftige Bundesregierung gerichteten Forderung an die Öffentlichkeit, insbesondere für die geschätzt rund 160.000 Frauen, die im kommenden Jahr obdachlos werden, für Hilfe zu sorgen. Ältere Frauen seien wegen ihrer geringen Einkommen aufgrund von Kinderbetreuung oder niedrigen Renten nicht mehr in der Lage, die mit der Wohnungsnot einhergehenden steigenden Mieten zu bezahlen. Die Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (KAGW) forderte unter anderem, die Jobcenter müßten Wohnungskündigungen durch Beihilfen zu Mietschulden verhindern.

Gerichtsentscheidungen höherer Gerichte, Absichtserklärungen politischer Parteien oder auch Appelle engagierter Hilfsorganisationen sind bestenfalls geeignet, Hoffnungen zu schüren, solange in dieser hochsensiblen Frage die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Gewalt, die die sogenannten Obdachlosen so deutlich - auch für andere unmißverständlich - zu spüren bekommen, vermieden wird. Die Beteiligung an den herrschenden Verhältnissen geht häufig so weit, daß vielfach in die in Medien, Öffentlichkeit und Politik vorgehaltene generelle Bezichtigung verarmter und wohnungsloser Randständiger eingestimmt wird. Dabei mehren sich Berichte, aus denen hervorgeht, daß dies, wie Simon, ein Obdachloser Mitte 30, gegenüber der Zeit im Februar 2015 erklärte, "so gut wie jedem" widerfahren könne.

Die meisten Menschen hielten Obdachlosigkeit für einen selbstverschuldeten Zustand, so seine Einschätzung. Man würde in Deutschland nicht auf der Straße landen, wenn man nicht Drogen nähme oder alkoholabhängig sei - wie sonst könne man so radikal durch das soziale Netz fallen? Simon spricht in seinem Fall von einer Verkettung unglücklicher Begebenheiten. Im September 2014 hatte er seine Wohnung verloren und war obdachlos geworden. Die Firma, für die er jahrelang als Dachdecker gearbeitet hatte, war pleite gegangen. Vergeblich hatte er versucht, eine neue Stelle zu finden. Viel Geld hatte er in die Wohnung gesteckt, in der er gemeinsam mit seiner Freundin gelebt hatte, doch sie allein stand im Mietvertrag. Als es nur noch Streit zwischen ihnen gab, warf sie ihn hinaus. Angehörige, die ihn hätten aufnehmen können, hatte er nicht. Auf die Frage, ob es denn keine Freunde gab, sagte er vier Monate später, bereits vom Leben auf der Straße gezeichnet: "Ich dachte, ich hätte welche." [8]

Die Formulierung von den Maschen eines sozialen Netzes, durch die die Betroffenen gefallen wären, taucht immer wieder auf. Geschätzte 335.000 Wohnungslose, deren Zahl im kommenden Jahr auf über eine halbe Million ansteigen wird, sprechen eine andere Sprache und bilden eine Realität krassester Armut und existentiellster Not ab, von der viele Menschen nichts wissen wollen. Die Konfrontation mit der offensichtlichen Haltlosigkeit der sozialen Absicherung, die als Lohn gesellschaftlicher Anpassung postuliert wird, könnte dieses Überlebensarrangement in Gefahr bringen.

Obdachlosigkeit, verortet als Problem Randständiger, die es irgendwie "nicht gepackt" hätten, stellt ein so unattraktives Thema dar, daß es parteiübergreifend aus dem Bundestagswahlkampf, in dem zwar eine Menge sozialer und sonstiger Verbesserungen, so auch im Mietbereich, versprochen werden, nicht aber die Abschaffung der Obdachlosigkeit, herausgehalten wird. Die politischen Eliten gleich welcher Couleur wissen ihren Stellenwert als abschreckendes Beispiel offenbar zu schätzen. Unausgesprochen scheint die Auffassung vorzuherrschen, die bestehende Ordnung könne ohne eine Arbeitszwangsverwaltung, die auch die schlimmste Androhung realisiert, nicht aufrechterhalten werden. Die Not obdachloser Menschen wird als systemrelevantes Übel stillschweigend akzeptiert und in Nutzanwendung gebracht, was ohne die Beteiligung eines Großteils der Bevölkerung kaum möglich wäre. Daß Wut, Enttäuschungen und Existenzängste angesichts eigener finanziell schwieriger und unsicherer Lebensbedingungen nicht wirklich auf "die da unten" abgewälzt werden können, liegt zwar auf der Hand, ist jedoch gegenüber den sozialen Versprechungen und humanitären Segnungen, die zu erwirtschaften wären, wenn man sich nur wirklich fügen würde, deutlich unattraktiver.


Fußnoten:

[1] http://www.berliner-zeitung.de/berlin/toter-vom-nollendorfplatz-ein-paar-tuetenund-viele-fragen-28184754

[2] http://www.berliner-zeitung.de/berlin/obdachlose-in-berlin--ich-bin-total-fertig--ich-kann-nicht-mehr--26988212-seite2

[3] http://www.deutschlandfunk.de/sozialstatistik-immer-mehr-obdachlose-in-deutschland.1818.de.html?dram:article_id=373118

[4] http://www.dgfm.de/wohnungsbaupolitik/sv/artikel/in-deutschland-fehlen-4-millionen-sozialwohnungen.html

[5] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2017/07/2017-07-05-bericht-wohnungsmarkt.html

[6] http://www.tagesspiegel.de/berlin/studie-der-humboldt-universitaet-immer-mehr-zwangsraeumungen-in-berlin/11655044.html

[7] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-08/bundesverfassungsgericht-hartz-iv-rechte-wohnkosten-heizkosten

[8] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-02/obdachlosigkeit-berlin/komplettansicht

12. September 2017


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