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ASIEN/630: Schmierenkomödie der NATO um Korruption in Afghanistan (SB)


Schmierenkomödie der NATO um Korruption in Afghanistan

Karsai soll als Sündenbock für die Verfehlungen des Westens herhalten


Im Anti-Kriegsroman "Catch 22" gehört Milo Mindbender zu den wichtigsten Figuren. Während die Bomberpiloten und -besatzungen um den Buch-Helden Yossarian bei ihren Einsätzen über Italien in der Schlußphase des Zweiten Weltkrieges tagein, tagaus das Leben riskieren, macht der Quartiersmeister Milo Mindbender von ihrem Stützpunkt auf der Insel Pianosa im Mittelmeer aus die ganz dicken Geschäfte - auch mit den verfeindeten deutschen Nazis. Über seine Verbindungen zum regionalen Oberkommando der US-Armee sorgt der Vorzeigekapitalist sogar dafür, daß Yossarian und Kameraden Lagerhallen in Ägypten bombardieren, damit er und seine Geschäftspartner den internationalen Baumwollmarkt manipulieren und daraus einen riesigen Gewinn ziehen können. Im berühmten Werk Joseph Hellers, das allgemein als bissige Satire gilt, steckt eine nicht gerade kleine Prise Wahrheit über das Wesen des Krieges, zieht man die diversen Vereinbarungen, welche zwischen 1939 und 1945 die Konflikparteien über ihre Vertreter bei der Bank of International Settlements (BIS) im schweizerischen Bern trafen, in Betracht. Ein Ergebnis dieser Abmachungen war zum Beispiel, daß das Werk der I. G. Farben in Leverkusen - das heutige Bayer - von den alliierten Luftangriffen verschont blieb, weil dort der Wirkstoff der Anti-Malaria-Pillen für die US-Soldaten im Pazifizkrieg gegen die Japaner hergestellt wurde (Über das damals neutrale Portugal gelangte er von Europa in die USA). [1]

Vor diesem Hintergrund sind die ständigen Korruptionsvorwürfe, mit denen sich der afghanische Präsident Hamid Karsai seit einiger Zeit konfrontiert sieht, nichts als eine schlecht inszenierte Schmierenkomödie, mit der führende Politiker, Militärs und Medienkommentatoren im Westen von der eigenen Verantwortung für das Desaster in Afghanistan ablenken wollen. Ähnliches hat man in den letzten Jahren im Irak erlebt. Als dort 2005/2006 der Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten tobte, sollen die Iraker, die sich als unreif für die von den US-Neokonservativen für sie vorgesehene Rolle als Gründungsväter der ersten funktionierenden arabischen "Demokratie" erwiesen, daran allein schuld gewesen sein. Die Tatsache, daß der erste Golfkrieg 1991, die darauffolgenden jahrelangen Sanktionen und 2003 der gewaltsame Sturz Saddam Husseins durch einen illegalen Angriffskrieg samt Besatzung durch ausländische Truppen zum Ausbruch der religiösen Gewalt beigetragen haben könnten, wurde geflissentlich ausgeblendet - von dem Wunsch des US-Militärs, den wachsenden Aufstand gegen ihre Präsenz durch gezielte Anschläge und das Säen von Mißtrauen zwischen Sunniten und Schiiten zu schüren, ganz zu schweigen.

Ähnliches erleben wir dieser Tage in Afghanistan. Dort sind die Taliban auf dem Vormarsch, kontrollieren weite Teile der ländlichen Gebiete und führen fast nach Belieben Anschläge in der Hauptstadt Kabul aus. Die US-Streitkräfte verzeichnen ihre höchsten Verluste seit dem Einmarsch im Oktober 2001, räumen bereits kleinere Außenposten in Südafghanistan und erwägen, sich auf den Schutz der wichtigsten Städte zu konzentrieren. Während Amerikas Generäle mindestens 40.000 weitere Soldaten haben wollen, um ihre abstrusen Aufstandsbekämpfungsstrategien ausprobieren zu können, stellt die Regierung von US-Präsident Barack Obama allmählich die Frage nach dem Sinn des ganzen Afghanistankrieges. In einem sind sich jedoch die Kriegsfalken und die Pragmatiker in Washington einig: für die schlechte militärische Lage und die trüben Aussichten auf Erfolg sind allein Afghanistans Präsident Hamid Karsai und dessen "korruptes" Kabinett verantwortlich. Für den Fall, daß die NATO mit ihrer "Mission" in Afghanistan scheitert, was sich allmählich abzeichnet, wird bereits an der Legende gebastelt, das liege an Karsai und Konsorten, welche die Hilfsgelder in die eigene Tasche gewirtschaftet und damit den "Wiederaufbau" torpediert und ihre armen Landsleute in die Arme der Taliban getrieben hätten.

Nur weil Obama, seine Außenministerin Hillary Clinton oder der neue deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg an dem wiedergewählten Karsai rummäkeln und von diesem größere Anstrengungen bei der Korruptionsbekämpfung verlangen, macht das das ganze nicht glaubwürdiger. Im Gegenteil. Die USA haben selbst Karsai Anfang 2002 als ihre Marionette eingesetzt. Die Warlords, die er in die Regierung holte, waren dieselben Leute, denen George W. Bush, Dick Cheney und Donald Rumsfeld ihren grandiosen Blitzsieg gegen die Taliban Ende 2001 zu verdanken hatten. Als damals der General Rashid Dostum Hunderte wenn nicht sogar Tausende gefangengenommene Taliban-Krieger in Containern verdursten ließ, war das für die westlichen Politiker kein Thema. Die Dokumentation des irischen Filmemachers Jamie Doran über das Kriegsverbrechen wollte 2002 in den USA weder eine Fernsehanstalt ausstrahlen noch jemand auf DVD oder für die Kinos vertreiben.

Als plötzlich im vergangenen Juli - und damit mehr als sieben Jahre später - die New York Times das Thema entdeckte, diente das ausschließlich dazu, Karsai unter Druck zu setzen und seine Kandidatur für die afghanische Präsidentenwahl im August zu torpedieren. Ähnliches dürfte für die spektakuläre Enthüllung gelten, welche die einflußreichste Zeitung der Welt am 28. Oktober, wenige Tage vor der geplanten Stichwahl zwischen Karsai und dem ehemaligen Außenminister Abdullah Abdullah, brachte, nämlich daß der Bruder des afghanischen Präsidenten, Ahmed Wali Karsai, der als einer der größten Drogenbarone des Landes gilt, seit Jahren auf der Gehaltsliste der CIA stehe. Ob Ahmed Wali Karsai tatsächlich in den Opiumschmuggel verwickelt ist, ist unklar. Der Vorwurf wird dauernd erhoben, doch die Bezichtiger haben niemals konkrete Beweise für ihre Behauptungen vorgelegt. Wirklich verblüffend ist jedoch die Rezeption dieser Enthüllung gewesen. Der Vorwurf der Zusammenarbeit zwischen Ahmed Wali Karsai und der CIA wurde einzig ersterem zur Last gelegt, als wäre der Kontakt zum Auslandsgeheimdienst der USA der Beleg für irgendwelche dunklen Umtriebe. Umgekehrt jedoch störte sich offenbar niemand an der Tatsache, daß die Leute von Langley mit dem angeblich größten Drogenhändler Afghanistans unter einer Decke steckten.

Die US-Politiker fanden an Hamid Karsai, den sie einst fast als Rockstar feierten, keinen Gefallen mehr, als dieser letztes Jahr ein eigenes Profil gewann und begann, die vielen zivilen Opfer der Bomben- und Raketenangriffe der NATO-Streitkräfte zu beklagen und sich öffentlich für Friedensverhandlungen mit den Taliban auszusprechen. Von daher überrascht es nicht, wenn am 12. November Karsais Sprecher Siamak Herawi im Interview mit der Nachrichtenagentur Agence France Presse die Korruptionsvorwürfe aus dem Westen an ihre Urheber zurückschickte: "Wir haben uns gegenüber der internationalen Gemeinschaft dazu verpflichtet, unsere Bemühungen gegen die Korruption zu intensivieren. Wir meinen es ernst. Gleichzeitig wollen wir, daß die internationale Gemeinschaft mehr unternimmt, um die Korruption bei der Verteilung von Hilfsgeldern zu eliminieren. Wir wollen, daß die internationale Gemeinschaft die Korruption eliminiert, die bei der Vergabe von Aufträgen stattfindet."

Hier hat Herawi einen ganz wichtigen Punkt angesprochen, der leider in der bisherigen Korruptionsdiskussion viel zu kurz gekommen ist, nämlich daß die NATO-Streitkräfte selbst die Hauptquelle der ganzen Bestechungsgelder in Afghanistan sind. Die nordatlantische Allianz hat im bettelarmen Afghanistan eine gigantische Infrastruktur aufgebaut, an der alle - Transportunternehmer, Sicherheitsleute, Aufständische, Bauarbeiter u. v. m. auf die eine oder andere Weise zu verdienen versuchen. Als im Sommer Obama beim US-Kongreß 68 Milliarden Dollar zur Deckung der Kosten für den Afghanistankrieg 2010 beantragte, verlangte der US-Botschafter in Kabul, General a. D. Karl Eikenberry, die Hilfsgelder für zivile Projekte von 4,1 Milliarden Dollar um weitere 2,5 Milliarden zu erhöhen - was einem eine Idee von den Summen, um die es hier geht, vermittelt.

In der Oktoberausgabe der Zeitschrift American Conservative ist Kelley Beaucar Vlahos unter der Überschrift "The Taliban's Toll - How American taxpayer dollars are being used to fund our Afghan enemies", zu deutsch "Die Maut der Taliban - Wie amerikanische Steuergelder benutzt werden, um unsere afghanischen Feinde zu finanzieren", zu dem Schluß gekommen, daß die Taliban Mullah Omars und ihre diversen Lokalverbündeten in Afghanistan jährlich rund eine Milliarde Dollar an Schutzgeldern von der NATO erpreßten. In einem noch umfassenderen Artikel, der in der 30.-November-Printausgabe der linksliberalen US-Zeitschrift The Nation und in leicht gekürzter Form am 13. November bei der britischen Tageszeitung Guardian erschienen ist, berichtet der NBC-Reporter Aram Roston unter der Überschrift "How the US Funds the Taliban" unter anderem, daß rund 10 Prozent der Kosten der Versorgung der ausländischen Truppen mit Treibstoff als Schutzgelder an die Taliban und andere Milizen gehen, damit diese die Lastwagenkonvois die von ihnen kontrollierten Gebiete passieren lassen.

Derzeit befinden sich 68.000 US-Soldaten in Afghanistan. Sie verbrauchen pro Soldat fünf Liter Benzin täglich. Auf Anfrage des Verteidigungsauschusses des Repräsentantenhauses in Washington gab das Pentagon im Sommer bekannt, daß jeder in Afghanistan gebrauchter Liter Benzin den US-Steuerzahler 100 Dollar kostet. Aus diesen Daten können wir errechnen, daß die US-Streitkräfte derzeit 34 Millionen Dollar täglich für Benzin ausgeben. Stimmen die Einschätzungen von Vlahos und Roston gehen hiervon täglich 3,4 Millionen Dollar an die Aufständischen, damit diese ihre Kämpfer bezahlen, verpflegen und ausrüsten. Mit diesem Umstand hat Hamid Karsai oder sein Bruder nicht das geringste zu tun. Die NATO hat sich unter fadenscheinigen Gründen - die Jagd auf Osama Bin Laden - in Afghanistan niedergelassen und damit viele Menschen dort gegen sich aufgebracht. Acht Jahre später überlegt man, ob es überhaupt eine gute Idee war und ob man vielleicht nicht besser abziehen sollte. Letztes Jahr hat Mullah Omar der NATO "sicheres Geleit" im Falle eines Abzugs angeboten. Vielleicht sollte die NATO das Angebot annehmen - um der Eindämmung der "Korruption" am Hindukusch willen.

Fußnote:

1. Jacques R. Pauwels, "Der Mythos vom guten Krieg - Die USA und der 2. Weltkrieg", PapyRossa Verlag, Köln, 2003

13. November 2009