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ASIEN/697: Japans Chauvinisten bauschen China zur Bedrohung auf (SB)


Japans Chauvinisten bauschen China zur Bedrohung auf

Machtkampf in Tokio zieht schwere geopolitische Konsequenzen nach sich


Nach dem kurzen, ungeplanten Vier-Augen-Gespräch, das Chinas Premierminister Wen Jiabao mit seinem japanischen Amtskollegen Naoto Kan am 4. Oktober am Rande des EU-Asien-Gipfels in Brüssel geführt hat, gilt der jüngste diplomatische Krach zwischen Peking und Tokio, der sich an der Aufbringung eines chinesischen Fischerboots Anfang September durch die japanische Küstenwache entzündet hatte, offiziell als beigelegt. Doch auch wenn Wen und Kan gemeinsam ihr Interesse an freundschaftlichen bilateralen Beziehungen bekunden, haben die Verursacher der seit Jahren schwersten Krise zwischen Peking und Tokio, nämlich chauvinistische, sinophobe Kräfte in Japan, ihr Ziel erreicht: Die aufstrebende Supermacht China steht als große Bedrohung da, vor der nur Japan in Zusammenarbeit mit den USA die kleineren Länder Ost- und Südostasiens - Südkorea, Taiwan, Indonesien, die Philippinen, Brunei, Vietnam, Laos, Malaysia, Thailand und Singapur - retten können.

Seit Jahrzehnten streiten sich die Volksrepublik China und Japan darüber, zu wem die kleinen unbewohnten Diaoyutai- respektive Senkaku- Inseln im Ostchinesischen Meer gehören, in deren Umgebung größere Öl- und Gasvorkommen vermutet werden. Zwar bemühen sich beide Außenministerien um einen Kompromiß, der die gemeinsame Ausbeutung der Energieressourcen ermöglichen würde, doch in der Zwischenzeit führt die japanische Küstenwache verstärkte Patrouillen bei "ihren Inseln" durch. Daß es vor wenigen Wochen wegen des Dauerstreits zur spektakulären Konfrontation gekommen ist, hängt in allererster Linie mit der Innen- und Außenpolitik Japans zusammen.

Im September 2009 hatte die Demokratische Partei Japans (DJP) mit ihren beiden kleineren Koalitionspartnern, den Sozialdemokraten und der neuen Volkspartei (NVP), die Wahlen zum japanischen Unterhaus gewonnen und die seit Ende des Zweiten Weltkrieges fast ohne Unterbrechung gänzlich allein regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) an der Macht abgelöst. Zu den Wahlversprechen der DJP gehörte die Aussicht auf eine ausgewogenere, weniger Washington hörige Außenpolitik, die ihren stärksten Ausdruck in der Rücknahme der Pläne zur Verlegung eines großen Teiles der US-Marineinfanterie auf Okinawa von ihrem bisherigen Stützpunkt Futenma auf die neue Basis Camp Schwab im Norden der Insel finden sollte. Doch weil die Administration von US-Präsident Barack Obama an dem Anfang 2009 mit der Vorgängerregierung der LDP paraphierten Abkommen über die Truppenverlegung festhielt und zu keinen Zugeständnissen bereit war, mußte Anfang Juni der neue japanische Premierminister Yukio Hatoyama, dessen Zustimmungswerte innerhalb von acht Monaten ins Bodenslose gestürzt waren, seinen Hut nehmen.

An die Stelle Hatoyamas rückte der eher farblose Naoto Kan, der sich nach schweren Verlusten der DJP bei den Wahlen zum japanischen Oberhaus im Juli einen Monat später mit einer Herausforderung um die Parteiführung durch Ichiro Ozawa konfrontiert sah. Der frühere DJP-Generalsekretär gilt als Vertreter derjenigen japanischen Wirtschaftskräfte, die eine stärkere Ausrichtung Tokios auf China, das die USA vor einiger Zeit als größten Handelspartner Japans überholt hat, befürworten. Auch wegen seiner nationalistischen Haltung im Basenstreit auf Okinawa ist er für die Amerikaner und ihre Verbündeten in Japan ein rotes Tuch. Vor diesem Hintergrund war die Mutation der belanglosen Kollision eines chinesischen Fischerboots mit zwei Schiffen der japanischen Küstenwache vor den Diaoyutai/Senkaku-Inseln am 7. September - eine Woche vor der Wahl um den DJP-Vorsitz am 14. September - zu einem diplomatischen Supergau kein Zufall, sondern gewollt.

Wie die japanische Tageszeitung Asashi Shimbun am 29. September berichtete, hat Seiji Maehara, damals noch Minister für Landwirtschaft, Infrastruktur, Transport und Tourismus und somit für die Küstenwache zuständig, höchstpersönlich die Aufbringung des chinesischen Boots und die Festnahme seiner Besatzung samt Kapitän Zhan Qixiong angeordnet, damit die Regierung in Tokio gegenüber der Volksrepublik eine "resolute Haltung" an den Tag lege. In der Asashi Shimbun wird Maehara, der als Befürworter einer Revision der pazifistischen Verfassung Japans gilt, damit Tokio an der Seite Washingtons "mehr Verantwortung" für "Stabilität" und "Sicherheit" in Asien und darüber hinaus übernehmen kann, mit den Worten zitiert: "Das Amt des Premierministers verhielt sich zögerlich, also mußte ich die Entscheidung, den Kapitän festzunehmen, treffen. Im Umgang mit der Angelegenheit gab es keine Fehler."

Für Maehara war die daraufhin einsetzende Krise ein voller Erfolg. Der Ausbruch chauvinistischer Gefühle in China und Japan trug nicht unwesentlich dazu bei, daß der pro-chinesische Ozawa bei der Abstimmung um den DJP-Vorsitz dem Amtsinhaber Kan deutlich unterlag. Zur Belohung wurde Maehara am 21. September zum neuen japanischen Außenminister ernannt. Nach dem demonstrativen Antrittsbesuch zwei Tage später bei Hillary Clinton in New York behauptete Maehara, die amerikanische Amtskollegin habe ihn im Gespräch in seiner Ansicht bestätigt, daß sich die Sicherheitsgarantie der USA für das Staatsterritorium Japans auch auf die Senkaku-Inseln erstrecke. Möglicherweise hat damit Japans neuer Chefdiplomat den Bogen überspannt. Während die Amerikaner auf Abstand zu der Behauptung in Bezug auf die Sicherheitsgarantie gingen, entschied sich daheim in Tokio Premierminister Kan ganz plötzlich, auf den geplanten Prozeß gegen den chinesischen Kapitän Zhan zu verzichten, und diesen am 25. September nach Fuzhou-Stadt in der südchinesischen Provinz Fujian zurückfliegen zu lassen. Seitdem gießt Maehara weiter Öl ins Feuer mit der Behauptung, die Forderung Pekings nach einer formellen Entschuldigung seitens Tokios wegen der ungerechtfertigten Behandlung Zhans zeuge von der "undemokratischen Natur" der kommunistischen Führung in Peking.

Das wahrhaft Erschreckende an den Manövern Maeharas und seines Mentors, des DJP-Generalsekretärs Katsuya Okada, ist, wie gut sie ungeachtet aller Durchsichtigkeit funktioniert haben. Weil die Volksrepublik, die zu Anfang des Streits um eine wenig aufgeregte Beilegung bemüht war, auf die Provokationen Tokios mit Drohungen, einer Teilunterbrechung der diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen und der Festnahme vierer Japaner wegen des angeblichen Fotografierens von sicherheitsrelevanten Objekten reagiert hat, wird sie nun in weiten Teilen der internationalen Presse als aggressive Verfechterin einer eigenen Hegemonie im asiatisch-pazifischen Raum behandelt, weswegen man froh sein müßte, die USA wären noch da, um sie in Schach zu halten. In einer Meldung der Japan Times vom 4. Oktober hieß es über den Plan des Tokioter Verteidigungsministeriums zum Kauf dreier Global Hawks, die unbemannten Aufklärungsflugzeuge Made in the USA sollten den japanischen Streitkräften dazu verhelfen, sowohl "mit den Atomwaffen- und Raketenprogrammen Nordkoreas" als auch "mit der Militarisierung Chinas fertig zu werden". Beim Gipfeltreffen des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums, das in diesem Jahr am 13. und 14. November im japanischen Yokohama - Heimathafen der sechsten US-Flotte - stattfindet und an dem der chinesische Präsident Hu Jintao teilnehmen wollte, wird man vielleicht ermessen können, inwieweit Chinesen und Japaner den jüngsten Inselstreit hinter sich haben lassen können.

5. Oktober 2010