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ASIEN/710: Falscher Taliban-Anführer blamiert die NATO (SB)


Falscher Taliban-Anführer blamiert die NATO

Schuldzuweisungen folgen auf Pleite der NATO-Militärgeheimdienste


Auf dem NATO-Gipfel im portugiesischen Lissabon am 19. und 20. November haben die 28 Regierungschefs des nordatlantischen Militärbündnisses die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan an die afghanische Armee und Polizei beschlossen. Voraussetzung für die Verwirklichung dieses Plans ist ein Erfolg nicht nur bei der Rekrutierung und Ausbildung mehrerer zehntausend neuer afghanischer Polizisten und Soldaten, sondern auch bei der aktuellen Aufstandsbekämpfungsstrategie von US-General David Petraeus, dem Oberbefehlshaber der Truppen der International Security Assistance Force (ISAF). Doch bei beiden Vorhaben sind keine positive Tendenzen zu erkennen.

Westliche Ausbilder beklagen die schlechte Bildung und Moral der Rekruten, von denen nicht wenige heimliche Sympathien für die Taliban und andere aufständische Gruppen hegen. Petraeus' Aufstandsbekämpfung zeichnet sich vor allem durch Aktionismus aus. Die Zahl der US-Luftangriffe und mit ihr die der getöteten Soldaten, Aufständischen und Zivilisten ist in den letzten Monaten drastisch angestiegen. US-Spezialstreitkräfte greifen nachts immer mehr mutmaßliche Taliban-Kommandeure, von denen viele einfache Dorfvorsteher sind, ab und töten dabei immer wieder unschuldige Zivilisten. Im Vorfeld des NATO-Gipfels lieferten sich deshalb Hamid Karsai und Petraeus einen handfesten Streit. Die Gültigkeit der Kritik des afghanischen Präsidenten, die von Petraeus im Sommer veranlaßte Lockerung der Gefechtsregeln sei kontraproduktiv, hat die Regierung Barack Obama durch Hinweise auf vermeintliche Erfolge im Kampf gegen die Taliban zu entkräften versucht. Doch der jüngste Vorfall um den falschen Taliban-Anführer Mohammad Mansour zeigt deutlich, daß die westlichen Streitkräfte trotz mehr als neun Jahren Besatzung die kulturelle Kluft zu den Menschen in Afghanistan nicht überwinden konnten und daß ihre Aufstandsbekämpfungsstrategie, die einst darin bestand, die "Herzen und Köpfe" der einheimischen Bevölkerung zu erobern, zum Scheitern verurteilt ist.

Am 23. November meldeten die New York Times und die Washington Post, daß es sich bei dem Mann, der seit dem Frühjahr als Mullah Akhtar Muhammad Mansour, der zweithöchste Talibananführer, an Friedensverhandlungen mit Vertretern der Regierung Karsai teilgenommen hat und deshalb mehrmals mit NATO-Flugzeugen vom pakistanischen Quetta nach Kabul geflogen wurde, um einen Hochstapler handelt. Bis heute haben die westlichen Militärgeheimdienste nicht sagen können, wer sich hinter dem paschtunischen Hauptmann von Köpenick, der in den letzten Monaten bis zu einer Millionen Dollar an Spesen- und Bestechungsgeldern von der NATO kassiert haben soll und inzwischen über alle Berge ist, versteckt. Dafür grassieren verschiedene Theorien, nämlich daß er ein einfacher Ladenbesitzer aus Pakistan bzw. ein Gewährsmann des pakistanischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) bzw. ein Doppelagent der eigentlichen Taliban-Führung um Mullah Mohammed Omar gewesen ist, der in deren Auftrag die Gegenseite ausspionieren sollte.

Die Tatsache, daß der falsche Mansour erst durch einen afghanischen Bekannten des echten und das auch erst nach der Teilnahme an mehreren Gesprächsrunden in Kabul enttarnt worden ist, stellt für die NATO im Allgemeinen, für Petraeus im Besonderen eine Blamage ersten Ranges dar. Unter Verweis auf die laufenden Gespräche mit dem zu diesem Zeitpunkt noch nicht enttarnten Falschspieler hat der ISAF-Oberbefehlshaber im August, September und Oktober bei verschiedenen Auftritten in den Medien behauptet, innerhalb der Taliban-Führung gebe es Kräfte, welche die überlegene Feuerkraft der NATO eingesehen hätten und deshalb zu Kompromissen im Rahmen einer Friedenslösung bereit seien. Mit der Behauptung wollte Petraeus den Eindruck erwecken, seine Methoden der Aufstandsbekämpfung hätten bei einem Teil der Taliban zu einem Umdenken geführt und die vom US-Militär angestrebte Trennung der "gemäßigten" Kräfte von den "Hardlinern" um Mullah Omar lasse sich in der Tat verwirklichen. Nun steht der Wundermacher Petraeus, der 2007/2008 angeblich für die Befriedung des Iraks verantwortlich war, selbst als Blender da.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, daß Washington andere für das peinliche PR-Eigentor verantwortlich machen will. Am 25. November berichteten sowohl die New York Times als auch die Washington Post unter Verweis auf nicht namentlich genannte Quellen bei der US-Regierung, Mitarbeiter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 in Pakistan seien es gewesen, die dem falschen Mohammed Mansour auf den Leim gegangen sind und ihn gegenüber den NATO-Verbündeten als potentiellen Verbindungsmann zur Taliban-Führung aufgebaut haben. Die Charade um die Schuldzuweisung bezüglich des Mansour-Fiaskos spiegelt sich im jüngsten Halbjahresbericht des Pentagons zur Lage in Afghanistan wieder. In dem Bericht wird die katastrophale Position der NATO am Hindukusch schonungslos geschildert. Doch an der Situation sind laut Pentagon-Bericht Petraeus und Konsorten vollkommen unschuldig. Die US-Generalität schiebt den Schwarzen Peter für die eigene drohende Niederlage am Hindukusch der angeblich korrupten Karsai-Administration, den Pakistanern, die den Taliban Unterschlupf in Nordwasiristan und Belutschistan gewähren, und nicht zuletzt der Obama-Regierung, weil diese im Juli 2011 mit dem Abzug der US-Streitkräfte beginnen will, zu.

26. November 2010