Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

ASIEN/776: Zweitausendster US-Soldat in Afghanistan gefallen (SB)


Zweitausendster US-Soldat in Afghanistan gefallen

Kein Ende des gegenseitigen Zermürbungskrieges am Hindukusch in Sicht



Ende September ist die Zahl der in Afghanistan gefallenen US-Soldaten auf mehr als 2000 gestiegen. Die Statistik ist in gewisser Weise frisiert, denn es werden hier nur die Militärangehörigen gezählt, die unmittelbar am Kriegsschauplatz sterben. Diejenigen, die im Transportflugzeug auf dem Weg in ein US-Militärkrankenhaus im deutschen Landstuhl ihren Verletzungen erliegen, von denen es bereits mehr als 100 gab, werden nicht dazugerechnet. Neben der Todeszahl sollte man auch nicht die mehr als 17.000 US-Soldaten vergessen, die ein oder mehrere Gliedmaße in Afghanistan verloren haben oder mit einer schweren Schädeltrauma nach Hause zurückkehrten. Um ein vielfaches höher liegt wiederum die Zahl traumatisierter US-Soldaten, die für immer unter ihren Kriegserlebnissen zu leiden haben werden. Dabei gibt es immer noch keine Aussicht auf ein Ende des Afghanistankrieges, der nun mehr als elf Jahre andauert und zum längsten Krieg der US-Militärgeschichte geworden ist (sieht man von dem seit 1953 im Waffenstillstand befindlichen, formell immer noch nicht beendeten Krieg auf der koreanischen Halbinsel ab).

Die traurige und vertrackte Situation hat US-Außenministerin Hillary Clinton nicht daran gehindert, anläßlich des ersten offiziellen Treffens der U.S.-Afghanistan Bilateral Commission am 3. Oktober in Kabul zu verkünden, daß die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan von den NATO-Streitkräften an die neue afghanische Armee und Polizei - ein Prozeß, der bis 2014 abgeschlossen werden soll - "planmäßig" verlaufe. In Anwesenheit von Präsident Hamid Karsai verwies die ehemalige First Lady auf Fortschritte im afghanischen Bildungs- und Gesundheitssystem sowie auf die Integrierung von Frauen in den gesellschaftlichen Alltag. Demgegenüber steht die steigende Häufigkeit, mit der westliche Soldaten statt durch Überfälle oder Raketenangriffe der Taliban durch Schüsse der eigenen afghanischen Alliierten während eines Einsatzes umgebracht werden.

Die Zahl der NATO-Soldaten, die bereits in diesem Jahr bei solchen "Insider-Angriffen" getötet wurden, liegt bei mehr als 53. Auch der zweitausendste gefallene US-Soldat ist bei einem solchen Zwischenfall ums Leben gekommen. Dieser ereignete sich am 29. September, als ein Streit zwischen amerikanischen Soldaten und Angehörigen der Afghanischen Nationalarmee (ANA) bei einer gemeinsamen Straßenkontrolle in der Provinz Wardak, westlich von Kabul, in eine Schießerei ausartete. Bei dem Vorfall kamen auch drei afghanische Soldaten und deren Ausbilder, ein privater Sicherheitsdienstler aus den USA, um. Für die Zunahme solcher "Insider-Angriffe" gibt es mehrere Gründe: erstens, die Unterwanderung der afghanischen Streitkräfte durch die Taliban; zweitens, der Überdruß zahlreicher Afghanen angesichts der Dauer der ausländischen Militärpräsenz; drittens die Empörung über das vor kurzem im Internet veröffentlichte Mohammed-Schmähvideo.

Die gestiegene Bedrohung hat die NATO-Streitkräfte zu einer Reihe drastischer Maßnahmen veranlaßt, welche das Erreichen der Ausbildungs- und Abzugsziele illusorisch erscheinen lassen. Gemeinsame Einsätze mit den afghanischen Soldaten und Polizisten sind stark eingeschränkt worden. NATO-Soldaten, die Afghanen ausbilden, müssen wiederum von anderen westlichen Kameraden geschützt werden. Alle westlichen Soldaten sollen stets - selbst auf den Stützpunkten - ihre Waffen bei sich tragen und zur sofortigen Eröffnung des Feuers bereit sein. Auf den NATO-Basen wurden sichere Bereiche eingerichtet, wo sich die westlichen Soldaten zurückziehen können, sollten sich irgendwelche afghanische Kameraden als Taliban-Überläufer entpuppen und um sich zu schießen beginnen.

Als 2009 die US-Militärführung - Verteidigungsminister Robert Gates, Generalstabschef Admiral Michael Mullen, CENTCOM-Chef General David Petraeus und ISAF-Oberkommandeur General Stanley McChrystal - ihren neuen Präsidenten Barack Obama zu einer kräftigen Truppenaufstockung überredeten, versprachen sie ihm, innerhalb von 18 Monaten die Taliban an den Verhandlungstisch zu bombardieren. Drei Jahre später verlassen die letzten zu dieser Aufstockung gehörenden Kontingente Afghanistan, die Zahl der im Land befindlichen US-Soldaten ist wieder von 100.000 auf rund 60.000 gesunken, während es immer noch keine Anzeichen dafür gibt, daß mit den Taliban irgendein Modus vivendi erreicht werden kann.

Im einem am 4. Oktober bei der libanesischen Daily Star unter der überschrift "The U.S. looks for a decent escape from Afghanistan" erschienenen Beitrag berichtete David Ignatius, deren CIA-Kontakte legendär sind, über Annäherungsgespräche, die unter pakistanischer Vermittlung zwischen beiden Seiten in den letzten Monaten eigentlich ganz gut verlaufen seien und Möglichkeiten eines Auswegs aus der Pattsituation am Hindukusch bieten würden. Demnach ist die Taliban-Führung unter Mullah Mohammed Omar bereit, endgültig von Al Kaida abzuschwören, sich mit den früheren Gegnern von der Nordallianz in der Karsai-Regierung zu versöhnen und sich in das politische Leben Afghanistans zu integrieren. Darüber hinaus wollen sie künftig Frauenrechte respektieren und einer Schulbildung für Mädchen nicht mehr im Wege stehen, verlangen aber im Gegenzug dafür, daß sämtliche ausländische Truppen das Land verlassen. Doch wie man weiß, haben die USA in den letzten Jahren mehrere große Luftwaffenstützpunkte in Afghanistan eingerichtet, die zu räumen das Pentagon partout nicht bereit ist, käme dies doch einem Abschied von der strategischen Kontrolle Zentralasiens und der Umzingelung Rußlands und Chinas gleich.

Weit weniger optimistisch klang der Artikel, den ebenfalls am 4. Oktober die New York Times unter dem Titel "U.S. Abandoning Hopes for Taliban Peace Deal" veröffentlichte. Darin schrieben Matthew Rosenberg and Rod Nordland, die politische und militärische Führung in Washington habe sich von ihrem Ziel, den Taliban-Führern einen Frieden nach amerikanischen Bedingungen aufzuzwingen, verabschiedet. Demnach bestehe der neue Plan der USA darin, die afghanischen Streitkräfte soweit zu stärken, daß sie sich nach dem Abzug der meisten NATO-Truppen im nächsten Jahr den Taliban widersetzen können, woraufhin es irgendwann zu einer innerafghanischen Friedenslösung kommen soll.

Liest man im NYT-Artikel zwischen den Zeilen, läßt sich aus dem angekündigten Verbleib einer unbekannten Anzahl amerikanischer Militärausbilder nach 2014 in Afghanistan der Wunsch nach einem dauerhaften Weiterbetrieb der US-Luftwaffenstützpunkte heraushören. Genauso wie die Taliban, scheinen sich die westlichen Militärs auf eine lange Fortzetzung des derzeitigen Krieges niedriger Intensität, wie er im Pentagon-Jargon heißt, einzustellen. Rosenberg und Nordland zitieren einen ranghohen, namentlich nicht genannten NATO-Offizier mit folgender Einschätzung der Taliban und der aktuellen militärischen Lage in Afghanistan: "Das ist ein sehr unverwüstlicher Feind. Ich kann Ihnen nur sagen, das ist ein dauerhafter Kampf, der noch Jahre weitergehen wird."

5. Oktober 2012