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ASIEN/881: Pakistans Islamfundamentalisten auf dem Vormarsch (SB)


Pakistans Islamfundamentalisten auf dem Vormarsch

Armee läßt radikale Moslems den Staat herausfordern


In Pakistan braut sich eine brandgefährliche Mischung aus religiösem Fundamentalismus und militärischem Abenteurertum zusammen, die für die gesamte Welt verheerende Folgen haben könnte, sollte es irgendwann zu einem Atomkrieg der islamischen Republik mit dem verfeindeten Nachbarstaat Indien kommen. Die Ereignisse der letzten Wochen in Pakistan lassen befürchten, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis es zu der seit Jahren am Hindukusch drohenden Endabrechnung zwischen dem muslimischen Pakistan und dem hinduistischen Indien kommt. Ein wesentlicher Faktor bei dieser unheilvollen Entwicklung ist der praktisch seit 1979 tobende Krieg in Afghanistan, mittels dessen die USA beim Ringen um die Ressourcen Eurasiens einen strategischen Vorteil gegenüber Rußland, Iran und China anstreben und dabei billigend in Kauf nehmen, daß diese Intervention den Staat Pakistan destabilisiert.

Rund drei Wochen lang haben Moslemextremisten eine der wichtigsten Einfahrtsstraßen Islamabads blockiert und damit ein Verkehrschaos in der pakistanischen Hauptstadt verursacht. Khadim Hussain Rizvi, Chef der neuen Partei Tehreek-e-Labbaik, hatte zu der Massendemonstration aufgerufen, die Ausdruck des Protests gegen eine winzige Veränderung des Texts des im Wahlgesetz enthaltenen Bekenntnisses zu Islam-Gründer Mohammed war. Rizvi bezichtigte die Regierung, den Eid auf den Propheten geändert zu haben, um der religiösen Minderheit der Ahmadis, die islamische Fundamentalisten nicht als Moslems anerkennen, sondern als Häretiker betrachten, entgegenzukommen bzw. sie aufzuwerten. Recht schnell lenkte die von der Moslem-Liga (Nawaz) geführte Bundesregierung ein. Die Textänderung wurde gestrichen.

Dies hat Tausende von Demonstranten und ihre Anführer nicht befriedigt. Sie weigerten sich, die Straße zu räumen, und verlangten den Rücktritt von Justizminister Zahid Hamid, dem sie Blasphemie wegen vermeintlicher Beleidigung Mohammeds unterstellten. Daraufhin kam es zum zweiten Kniefall des Staats vor den Krawallmachern. Am 22. November hat ein Gericht in Islamabad die Aufhebung des Hausarrests für Hafiz Muhammad Saeed, Gründer und Leiter der in Pakistan verbotenen, militanten Gruppe Lashkar-e-Taiba, die Indien für die Anschläge verantwortlich macht, die 2008 in Mumbai 166 Menschen das Leben gekostet haben, verfügt. Saeed gilt aus Sicht Neu-Delhis und Washingtons als internationaler "Topterrorist", dessen Handlanger durch blutige Überfälle den Kaschmir-Streit am Kochen halten. Die islamischen Behörden hatten ihn Anfang des Jahres wegen zunehmender politischer Betätigung unter Hausarrest gestellt, nachdem er öffentlich Spenden für die von ihm gegründete karitative Einrichtung namens Jamaat-ud-Dawa, eine offensichtliche Lashkar-e-Taiba-Tarnorganisation, eingetrieben hatte.

Über die Aussetzung des Hausarrests für Saeed äußerten sich die Regierung Indiens und der USA enttäuscht und verärgert. In Neu-Delhi und Washington wurde Zweifel an der Zuverlässigkeit Pakistans als Verbündeter im "Antiterrorkrieg" geäußert. Doch selbst dieses Zugeständnis und die Inkaufnahme beträchtlichen außenpolitischen Schadens wußten die Straßenblockierer von Islamabad nicht zu würdigen. Sie blieben sitzen und beharrten weiterhin auf der Entlassung des Justizministers. Am 25. November kam es zum großen Knall. Es rückten Tausende von Polizisten an, um die Straße zu räumen. Zwar wurden bei der gewaltsamen Auseinandersetzung sechs Demonstranten getötet und 200 verletzt, doch blieb die Straße blockiert. Am selben Tag stürmten und verwüsteten Tehreek-e-Labbaik-Anhänger das Wohnhaus Hamids. Zum Glück war der Justizminister zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause.

Bei einem Krisentreffen mit Premierminister Shahid Khaqan Abbasi am 26. November weigerte sich der Chef der pakistanischen Streitkräfte, General Qamar Javed Bajwa, dem staatlichen Gewaltmonopol Geltung zu verschaffen und die religiösen Fundamentalisten in die Schranken zu weisen. Die Armee würde lediglich Parlament und Ministerien weiterhin beschützen, die blockierte Hauptverbindungsstraße jedoch nicht gewaltsam räumen; die Streitparteien sollten einen friedlichen Ausweg suchen, so sie absurde Gleichsetzung des obersten pakistanischen Militärs. Daher blieb dem düpierten Hamid nichts anderes übrig, als am 27. November seinen Rücktritt zu erklären. Im Gegenzug verzichtete Rivni darauf, eine Fatwa wegen Blasphemie gegen ihn zu verhängen.

Die Tehreek-e-Labbaik wurde 2016 als Reaktion auf die Hinrichtung Mumtaz Qadris gegründet. Fünf Jahre zuvor hatte der Leibwächter seinen Vorgesetzten, den damaligen Gouverneur des Bundesstaats Punjab, Salman Taseer, erschossen, weil sich dieser für eine Christin namens Asia Bibi, der wegen angeblicher Blasphemie die Todesstrafe drohte, eingesetzt hatte. 100.000 Menschen haben damals der Beisetzung Qadris, der inzwischen als großer Verteidiger des Glaubens und Märtyrer gilt, beigewohnt. Besonders gefährlich an der Tehreek-e-Labbaik ist die Tatsache, daß sie ihre Unterstützer nicht unter den Deobandis, die bekanntlich eine strenge Auslegung des Islam pflegen, sondern den Barelvis, der größten muslimischen Gemeinde Pakistans, rekrutiert, die traditionell als gemäßigt galt und nun scheinbar in eine Phase der Radikalisierung eingetreten ist.

In einem Artikel, der am 27. November unter der Überschrift "Shadows from history hang over Pakistan's present and future" bei der Asia Times Online erschienen ist, zitierte der angesehene geopolitische Analytiker und langjährige indische Diplomat M. K. Bhadrakumar den pakistanischen Redakteur Raza Poomi mit den ominösen Worten: "Ihre Militarisierung [der Barelvis] ist wohl das schlechtestmögliche Ergebnis des Machtkampfs in Islamabad. Bisher haben wir unter dem Angriff der extremistischen Deobandi-Kleriker gelitten. Wenn nun die mächtige Barelvi-Gemeinde zum Mittel der Gewalt greift, ist Pakistan auf dem Weg in die Katastrophe."

28. November 2017


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