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ASIEN/909: Afghanistan - Vom Kriegszweck zur Bündnisfunktion ... (SB)


Afghanistan - Vom Kriegszweck zur Bündnisfunktion ...


Am 12. Oktober hat sich Zalmay Khalilzad erstmals in seiner Funktion als neuer Sondergesandter der USA für die Versöhnung in Afghanistan in Doha mit Vertretern der Taliban getroffen. Dies berichtete am selben Tag in seiner Online-Ausgabe das Wall Street Journal unter Verweis auf Quellen im US-Außenministerium. Am 13. Oktober haben gegenüber Al Jazeera die Taliban ihre Teilnahme am Treffen bestätigt und behauptet, Zalmay hätte die Bereitschaft der Regierung Donald Trumps erklärt, über einen Rückzug aller ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan zu sprechen. Doch was als wichtiges Zugeständnis der Amerikaner, um den afghanischen Friedensprozeß in Gang zu bringen, anmutet, dürfte sich über kurz oder lang als Winkelzug und der von den Taliban lange geforderte "vollständige" Abzug der Streitkräfte der USA und ihrer NATO-Verbündeten als Fata Morgana erweisen.

Niemand ist besser geeignet als der 67jährige Khalilzad, einen Trumpschen "Deal" mit den Taliban auszuhandeln. Der langjährige US-Diplomat ist in Afghanistan geboren und gehört wie die meisten Taliban dem Volk der Paschtunen an. Khalilzad hat in den achtziger Jahren als junger Mitarbeiter des State Department mit besonderen Ortskenntnissen geholfen, die Militärhilfe der CIA für die afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die Sowjetunion - Operation Cyclone - zu koordinieren. Als Sonderbotschafter George W. Bushs hat er im Dezember 2001 - vor dem Hintergrund der Flugzeuganschläge vom September und dem Einmarsch der US-Streitkräfte in Afghanistan im Oktober - die große Bonner Konferenz der verschiedenen afghanischen Interessensvertreter organisiert und geführt, bei der die neue Verfassung des zentralasiatischen Landes verabschiedet und Hamid Karsai zum neuen Präsidenten und Washingtons "Mann in Kabul" in einem gekürt wurde.

Aktuell ist Khalilzad auf einer zehntägigen Reise mit Stippvisiten in den Hauptstädten Afghanistans, Pakistans, Katars, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien - Kabul, Islamabad, Doha, Abu Dhabi und Riad - unterwegs. Am 14. Oktober hat die afghanische Nachrichtenagentur TOLOnews.com ein Mitglied der vierköpfigen Taliban-Delegation beim Treffen in Doha zwei Tage zuvor bezüglich des Inhalts der Diskussion mit Khalilzad zitiert. Said Mohammad Akbar Agha erklärte, beide Seiten hätten sich verständigt, den Abzug ausländischer Truppen zu erörtern. 17 Jahre lang haben die USA die entsprechende Grundforderung der Taliban als indiskutabel abgetan. Doch aktuell brechen die afghanischen Streitkräfte zusammen. Die Taliban sind auf dem Vormarsch, wie die heftigen Kämpfe überall in Afghanistan zeigen. Anfang Oktober haben die Taliban mehrere Brücken bei Ghazni und damit die wichtigste Nord-Süd-Straßenverbindung zwischen Kabul und Kandahar gekappt. Die Position der USA in Afghanistan ist mit den dort stationierten rund 14.000 Soldaten nicht mehr zu halten.

In Kabul ist man über die derzeitige Entwicklung höchst besorgt. Man begrüßt zwar die Tatsache, daß die USA und die Taliban endlich miteinander reden, verlangt gleichzeitig, daß eine Friedenslösung in erster Linie von den Afghanen selbst gefunden werden soll. Zu diesem Zweck haben alle Parteien im Parlament am 11. Oktober eine neue Bewegung namens "Große Versammlung der nationalen Einheit" gegründet und die Taliban zur Teilnahme eingeladen. Angesichts des Umstands, daß derzeit im Schnitt 300 Menschen am Tag in Afghanistan infolge von Kriegshandlungen sterben, forderte der ehemalige Mudschaheddin-Kommandeur und Taliban-Verbündete Gulbuddin Hekmatyar, der in den neunziger Jahren zweimal Premierminister Afghanistans war, einen allgemeinen Waffenstillstand, die Aufnahme von Friedensverhandlungen aller Konfliktparteien ohne Vorbedingungen, die Bildung einer Interimsregierung der nationalen Einheit sowie die Aufstellung eines Zeitplans für den Abzug ausländischer Streitkräfte.

Die drastische Zunahme der Zahl der Getöteten in den letzten Wochen und Monaten hängt natürlich mit der Großoffensive der Taliban gegen die afghanische Armee und Polizei zusammen. Doch sie ist auch eine Folge verstärkter Luftangriffe der US-Streitkräfte sowie der zahlreichen blutigen Bombenanschläge des Islamischen Staats (IS), mit denen die "Terrormiliz" die Vorbereitungen für die Parlamentswahlen am 20. Oktober stören will. Bevorzugte Anschlagsziele der sunnitischen Gotteskrieger des IS sind schiitische Moscheen, Wahlkampfveranstaltungen und belebte Marktplätze. Beim jüngsten Bombenangriff, bei dem ein mit Sprengstoff beladenes Fahrrad per Fernzündung zur Explosion gebracht wurde, kamen am 14. Oktober 22 Zuhörer eines Wahlkampauftritts der Parlamentskandidatin Nazifa Yousufi Bek in der nordöstlichen Provinz Takhar ums Leben. Weitere 32 Menschen wurden schwer verletzt.

Auch wenn die USA mit den Taliban über einen Truppenabzug reden, so ist keine Konstellation vorstellbar, in der das Pentagon nicht irgendeine Art Militärpräsenz am Hindukusch behält. Schließlich sind die USA nicht 2001 in Afghanistan einmarschiert, um Osama Bin Laden zu fangen. Damals boten die Taliban Washington die Auslieferung des Gründers des Al-Kaida-"Netzwerks" an, doch wollte die Bush-Regierung davon nichts hören, weil es Dick Cheney und Donald Rumsfeld auf die Einrichtung von Militärstützpunkten in Reichweite des Irans, Pakistans, des Südens Rußlands sowie des Westens Chinas abgesehen hatten.

An diesem geostrategischen Motiv hat sich bis heute nichts geändert. Das Gegenteil ist der Fall, denn die Beziehungen der USA zu allen vier genannten Ländern haben sich seitdem dramatisch verschlechtert. In den letzten Jahren haben die USA die afghanischen Streitkräfte mit dermaßen viel Kriegsgerät ausgestattet, daß Kabul bis auf weiteres um die Dauerpräsenz irgendwelcher ausländischen Militäringenieure und -ausbilder vermutlich nicht mehr herumkäme. Mit der Notwendigkeit der weiteren Bekämpfung von IS dürften die USA den Verbleib einer kleinerer Zahl von Spezialstreitkräften in Afghanistan begründen. Mit dem Argument, diese seien nicht dort dauerhaft stationiert, sondern "in Rotation" könnten vielleicht sogar die Taliban umgestimmt werden. Und wenn nebenbei irgendwelche amerikanischen Kampfjets und Drohnen die paar übriggebliebenen Stützpunkte weiterhin nutzen, wer soll sich daran stören ...

15. Oktober 2018


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