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ASIEN/936: Afghanistan - Perpetuum mobile der Katastrophen ... (SB)


Afghanistan - Perpetuum mobile der Katastrophen ...


Langsam, aber sicher kommen die Bemühungen um eine Beendigung des Kriegs in Afghanistan wieder in Gang. Die Verhandlungen, welche die USA und die Taliban seit zwölf Monaten über neun Runden in der katarischen Hauptstadt Doha geführt hatten, sollten eigentlich am 8. September ihren Höhepunkt in einem für die Öffentlichkeit überraschenden Treffen samt Unterzeichnung eines tragfähigen Friedensabkommens auf dem Landsitz des US-Präsidenten in Camp David in Maryland finden. Doch quasi in letzter Minute sah sich Donald Trump aufgrund des Widerstands innerhalb seines Kabinetts gezwungen, die spektakuläre PR-Nummer abzublasen. Angeführt vom Nationalen Sicherheitsberater John Bolton lehnten die Falken in der Trump-Regierung das Ansinnen mit dem Argument ab, der Zeitpunkt eines Empfangs der einstigen Kampfgefährten von Mullah Muhammad Omar und Osama Bin Laden in den USA, nämlich drei Tage vor dem 18. Jahrestag der Flugzeuganschläge von New York und Arlington, sei unpassend. Zwei Tage nach der peinlichen, weil gleichzeitigen Bekanntgabe und Rücknahme der sonderbaren Initiative hat Trump seine Verärgerung über den Vorgang mit der sofortigen Entbindung Boltons von allen Pflichten unterstrichen.

Um sein Gesicht zu wahren, begründete Trump am 7. September per Twittermeldung den sofortigen Abbruch der Friedensverhandlungen mit den Taliban mit einem Autobombenanschlag, der zwei Tage zuvor an einem Straßenkontrollpunkt in Kabul zwölf Menschen, darunter einen US-Soldaten, das Leben gekostet hatte. An die Adresse der Taliban richtete Trump die kritikgeladene Frage: "Welche Sorte von Menschen würden soviel Tod verursachen, um scheinbar die eigene Verhandlungsposition zu stärken?" Doch der von Trump gegen die Taliban erhobene Vorwurf müßte eigentlich gegen beide Seiten im Afghanistankrieg gerichtet werden. Nach den Zahlen, welche die UN-Beobachtermission Mitte Oktober veröffentlicht hat, haben in den vergangenen Monaten sowohl die USA mit verstärkten Luftangriffen als auch die Taliban mit noch mehr Überfällen und Anschlägen einen taktischen Vorteil auf dem Schlachtfeld herbeizuführen versucht. Das Ergebnis ist ein sprunghafter Anstieg der Zahl ziviler Todesopfer. Demnach waren Juli, August und September die blutigsten Monate im Afghanistankrieg, seit die Vereinten Nationen 2009 mit der offiziellen Zählung getöteter und verletzter Kriegsopfer bei der Zivilbevölkerung begonnen haben. Im Vergleich zum selben Zeitraum 2018 lag die Verlustrate bei Zivilisten - 174 Tote und 3139 Verletzte - um ganze 42 Prozent höher. Die Opferzahl für die ersten drei Quartale 2019 ist mit 8000 auch die höchste seit Jahren.

Am 28. September fand die erste Runde der afghanischen Präsidentenwahl statt. Die Wahlbeteiligung erreichte mit nur 20 Prozent einen historischen Tiefpunkt. Die Gründe für das Desinteresse der allermeisten Afghanen am Urnengang war die Unbeliebtheit der Kandidaten, allen voran Präsident Ashraf Ghani und Premierminister Abdullah Abdullah. Nicht nur die Wahl selbst, sondern auch die Auszählung wurde von Vorwürfen der Stimmenmanipulationen begleitet. Dies erklärt, warum bis heute, fast einen Monat später, immer noch kein amtliches Endergebnis vorliegt. Dessen ungeachtet haben sich der Paschtun Ghani und der Tadschike Abdullah bereits beide zum Sieger erklärt. Sollte keiner von ihnen die Fünfzig-Prozent-Marke überschritten haben, wird eine Stichwahl fällig. Als sich die Rivalen bereits 2014 bei einem wochenlangen Streit nicht einigen konnten, wer die letzte Präsidentenwahl gewonnen hatte, mußte Barack Obamas Außenminister John Kerry extra nach Kabul fliegen und sie zur Bildung einer Regierung der nationalen Einheit verdonnern.

Vor dem Hintergrund höchster politischer Instabilität kam es am 4. Oktober in Islamabad unter der Schirmherrschaft der Regierung Pakistans zu einer "informellen" Begegnung des Afghanistan-Sondergesandten der Trump-Regierung, Zalmay Khalilzad, der selbst einer afghanisch-paschtunischen Familie entstammt, mit dem Taliban-Chefunterhändler Mullah Abdul Ghani Baradar, der in den neunziger Jahren zusammen mit Mullah Omar die Gruppe der Koranschüler mit dem Ziel einer Beendigung der Willkürherrschaft der Warlords gegründet hatte und deshalb bis heute großen Rückhalt in der Bewegung genießt. Über den Inhalt des Gespräches, von dem die Nachrichtenagentur Reuters als erste Medienorganisation berichtete, wurde nichts bekannt, außer daß beide Seiten ihren Willen, zu einer Friedensregelung zu kommen, versichert haben. Interessant an dem geheimnisumwitterten Treffen in Islamabad ist auch der Umstand, daß Khalilzad vom Oberkommandierenden der US-Streitkräfte in Afghanistan, General Austin Miller, begleitet wurde.

Laut dem Entwurf eines Abkommens, das Khalilzad, Baradar und ihre Unterhändler in Doha ausgearbeitet hatten und das Ende August angeblich unterschriftsreif vorlag, sollte das Ende des Afghanistankonflikts mit einem Waffenstillstand und dem Austausch von Gefangenen beginnen. Nebenbei sollten die USA den Abzug ihrer Streitkräfte einleiten. Inzwischen stellt sich heraus, daß eine deutliche Reduzierung der in Afghanistan stationierten US-Truppen schon begonnen hat - was man als positives Signal des Entgegenkommens Washingtons gegenüber den Taliban bewerten könnte.

Am 21. Oktober traf Trumps neuer Verteidigungsminister Mark Esper zu Gesprächen mit Präsident Ghani und Premierminister Abdullah in Kabul ein. Bei dieser Gelegenheit forderte Ghani erneut die Taliban zur Aufnahme von Gesprächen mit der afghanischen Regierung auf. Bisher lehnen die Taliban dies ab und bezeichnen die Mitglieder der Administration in Kabul als "Handlanger" der USA. Gleichzeitig verlangte der afghanische Friedensrat von den Taliban die Verkündung einer Feuerpause. Für den 28. und 29. Oktober sind in Peking unter der Schirmherrschaft der Regierung der Volksrepublik China Gespräche zwischen den Taliban und Vertretern der verschiedenen afghanischen Parteien und Gruppierungen geplant. Parallel dazu soll in den kommenden Tagen Khalilzad die NATO-Verbündeten als auch die Führungen in Moskau und Peking über den aktuellen Stand des afghanischen "Friedensprozesses" unterrichten.

24. Oktober 2019


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