Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


ASIEN/948: Afghanistan - Lunte und Zünder ... (SB)


Afghanistan - Lunte und Zünder ...


Achtzehneinhalb Jahre nach Beginn des Afghanistankriegs haben am 29. Februar in Doha, der Hauptstadt Katars, Zalmay Khalilzad im Namen der Vereinigten Staaten und Mullah Abdul Ghani Baradar, der Vizechef der Taliban, unter den Augen von US-Außenminister Mike Pompeo einen formellen Friedensvertrag unterzeichnet. Das in langen und schwierigen Verhandlungen zustande gekommene Abkommen sieht den Abzug aller ausländischen Streitkräfte innerhalb von 14 Monaten aus Afghanistan und den Auftakt innerafghanischer Verhandlungen bis zum 10. März vor, um die "Gewaltreduktion" der letzten Februar-Woche in einen dauerhaften Frieden zu verwandeln. Die USA haben ihrerseits versprochen, im UN-Sicherheitsrat für die Streichung der Namen mehrerer Mitglieder der Taliban-Führung von der internationalen "Terrorliste" und die Aufhebung gegen sie verhängter Sanktionen zu sorgen. Im Gegenzug wollen die Taliban sicherstellen, daß von afghanischem Boden aus niemals wieder "terroristische" Vereinigungen wie das Al-Kaida-"Netzwerk" Anschläge auf die USA oder deren Verbündete durchführen können.

Im Vorfeld der feierlichen, mit Spannung erwarteten Zeremonie in Doha war es der Regierung von US-Präsident Donald Trump gelungen, Afghanistans Präsident Ashraf Ghani und Premierminister Abdullah Abdullah, die beide den Sieg bei der Präsidentenwahl im vergangenen September für sich reklamieren, davon abzubringen, sich jeweils zum neuen Staatsoberhaupt zu erklären. Der erbitterte Machtkampf innerhalb des pro-westlichen Lagers in Kabul ist aber nicht beigelegt, was sich anhand des Fehlens der beiden mächtigsten Warlords Abdul Raschid Dostum, ein Verbündeter Abdullahs, und Gulbuddin Hekmatyar, dessen Hisb-i-Islami-Miliz noch bis 2016 auf seiten der Taliban kämpfte, bei der Parallelzeremonie, die NATO und Pentagon in der afghanischen Hauptstadt ebenfalls am 29. Februar veranstaltet haben, zeigte. In Anwesenheit der beiden Streithähne Ghani und Abdullah haben NATO-Chef Jens Stoltenberg und US-Verteidigungsminister Mark Esper die langfristige Finanzierung der afghanischen Streitkräfte sowie die Teilnahme der EU und der USA am Wiederaufbau Afghanistans und ihre Begleitung des in Aussicht gestellten Friedensprozesses zugesichert.

Ghani war es auch, der als erster die Friedenshoffnungen dämpfte, als er sich weigerte, die von den USA vertraglich gebilligte Freilassung von 5000 Taliban-Gefangenen - von insgesamt 15.000 -, die sich in Gewahrsam der afghanischen Behörden befinden, zu verfügen. Im Gegenzug sollten die Taliban 1000 von ihnen gefangenengehaltene Soldaten und Polizisten laufen lassen. Ghani beharrte auf dem Standpunkt, die USA hätten in Doha versprochen, sich für die Freilassung einzusetzen, doch liege die Entscheidung darüber ausschließlich bei der afghanischen Regierung in Kabul, die ihrerseits erst nach der Aufnahme bzw. im Rahmen von Verhandlungen mit den Taliban darüber befinden werde.

Ghani spielt an dieser Stelle ein hochgefährliches Spiel, denn zur Aufrechterhaltung der afghanischen Streitkräfte ist Kabul auf die logistische und finanzielle Hilfe der NATO angewiesen. Gleichwohl muß die afghanische Regierung eine eigenständige, zu den USA leicht konträre Position beziehen, um von den Taliban als Gesprächspartnerin überhaupt ernst genommen zu werden. Bislang verweigerten die Taliban Verhandlungen mit dem aus ihrer Sicht "Marionettenregime" in Kabul. Als Ghani - sehr zur Verärgerung Abdullahs - eine Abordnung aus eigenen Vertrauensleuten zur Unterzeichnung des Friedensvertrags in Doha entsandte, gingen Mullah Baradar und die restliche Taliban-Delegation dem Kontakt mit ihnen demonstrativ aus dem Weg.

Die geplanten innerafghanischen Verhandlungen stehen also unter keinem guten Stern. Und selbst in den USA ist der Friedenskurs von Präsident Trump nicht unumstritten. Am 27. Februar hat Liz Cheney, Tochter von George W. Bushs Vizepräsident Dick Cheney, die Wyoming im Washingtoner Repräsentantenhaus vertritt, zusammen mit einer Gruppe republikanischer Kongreßabgeordneten in einem offenen Brief an Präsident Trump gefordert, daß unter keinen Umständen alle US-Streitkräfte aus Afghanistan abgezogen werden. Weite Teile der neokonservativen Elite der USA stehen einem Truppenabzug aus Afghanistan skeptisch bis ablehnend gegenüber. Zu den Kritikern gehören Richard Haas, der einst als Berater Colin Powell während dessen Zeit als Außenminister gedient hat und heute Präsident des einflußreichen Council on Foreign Relations (CFR) in New York ist, sowie der ehemalige CIA-Chef und Irakkriegsveteran General a. D. David Petraeus.

Wegen der prinzipiellen Unvereinbarkeit der Standpunkte der Taliban und der tonangebenden Imperialistenfraktion in Washington ist seit Tagen viel von "geheimen Zusatzprotokollen" zum Friedensvertrag von Doha die Rede. Die Existenz vertraulicher Vereinbarungen, die nirgendwo im Vertragstext zu lesen sind, ist ein offenes Geheimnis und wird nicht einmal geleugnet. Als vor wenigen Tagen Mark Esper vor der Abreise nach Kabul von Journalisten danach gefragt wurde, versprach der Pentagon-Chef scherzhaft, beim Kollegen Pompeo nach dem Inhalt der "nicht-ganz-so-geheimen Zusatzprotokolle" - so die Formulierung der New York Times am 1. März - nachzufragen. Im besagten NYT-Artikel aus der Feder von David Sanger, der seit Jahren als zuverlässiges Sprachrohr vom Militär und Geheimdienst der USA fungiert, heißt es, die geheimen Zusatzprotokolle, in die weder Kongreßabgeordnete noch Senatoren Einblick erhielten, "erlauben es den US-Spezialstreitkräften und der CIA, eine Präsenz in Afghanistan zu behalten".

Laut Friedensvertrag werden die USA innerhalb der nächsten 135 Tage die Zahl ihrer in Afghanistan stationierten Soldaten von derzeit 14.000 auf 8.600 reduzieren; der restliche Abzug soll innerhalb der darauffolgenden neuneinhalb Monate vollzogen werden. Ob der zweite Schritt jemals erfolgt ist eine andere Frage. Niemand weiß, wie die Talibanmitglieder vor Ort auf eine weitere Präsenz von US-Spezialstreitkräften reagieren werden. In den USA gibt es Personen, denen eine künftige Zusammenarbeit mit den Taliban im Kampf gegen die radikal-fundamentalistische "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) vorschwebt. Hierzu gehören Präsident Trump und die Aufstandsbekämpfungskorphäe General a. D. David Kilcullen. Wiederum kann man sich gut vorstellen, daß sich einige Strategen im Pentagon und State Department vom Friedensvertrag eine Spaltung der Taliban in Gemäßigte und Hardliner versprechen, um erstere in das politische System Afghanistans zu integrieren und mit ihrer Unterstützung letzteren den Garaus zu machen. Ob sich jedoch die Taliban spalten lassen werden ist unklar. Der erste Eindruck ist, daß die ehemaligen Koranschüler aus dem Friedensvertrag von Doha moralisch gestärkt hervorgehen und sich als Bezwinger der Supermacht USA betrachten.

Die nach Meinung des Schattenblicks aufschlußreichste Einschätzung der Bedeutung der Vorgänge von Doha veröffentlichte Ronald Enzweiler am 27. Februar bei Antiwar.com unter der Überschrift "Trump's Taliban Peace Deal: The Kabuki Theater Continues". Enzweiler hat von 2007 bis 2014 als Mitarbeiter des US-Außenministeriums in Afghanistan gearbeitet - drei Jahre davon in der Taliban-Hochburg Kandahar und der umliegenden Region. Zuletzt hat er der Nationalen Sicherheitsberaterin Susan Rice beim Versuch Barack Obamas, den Krieg in Afghanistan bis Ende 2016 zu beenden, zur Seite gestanden. Der Versuch scheiterte bekanntlich, als die CIA im Mai jenes Jahres den damaligen Chef der Taliban, Mullah Aktar Muhammad Mansur, mittels eines per Drohne durchgeführten Raketenangriffs in der pakistanischen Provinz Belutschistan tötete und die Organisation ins Chaos stürzte.

Enzweiler sieht aus folgendem Grund keine Möglichkeit einer Beilegung des Krieges:

Die Kriegsbefürworter in den USA wollen eine dauerhafte Militärpräsenz in Afghanistan - genauer gesagt, den Luftwaffenstützpunkt Bagram zwecks Verfolgung vermeintlicher amerikanischer geopolitischer Interessen in der Region im Sinne des Großen Spiels - erhalten, während die Taliban entschlossen sind zu kämpfen, bis aus ihrer uralten Heimat alle fremdländischen Truppen entweder abziehen oder sie sie davongejagt haben, wie sie es seit Jahrhunderten tun.

Zum Schluß des Artikels gibt Enzweiler, der an der Harvard Universität sowie dem Massachusetts Institute of Technology studiert und bei der US-Luftwaffe gedient hat, folgende deprimierende Prognose ab:

Die Hohenpriester der politisch-militärischen Ordnung Washingtons gehen wegen Trumps bevorstehendem Friedensdeal mit den Taliban und seinem Plan, nächstes Jahr alle US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, aus einem einfachen Grund nicht an die Decke. Sie wissen, daß das Geschehen in Afghanistan für Trump ab November, sollte der sprunghafte Präsident wiedergewählt werden, bedeutungslos wird. Folglich kann die Anzahl von US-Soldaten, die erforderlich sind, um den derzeitigen Status quo aufrechtzuerhalten - d. h. um die Marionetten-Regierung an der Macht und den Fliegerhorst Bagram in amerikanischen Händen zu behalten - nächstes Jahr erneut dorthin verlegt werden, sollte Trump wiedergewählt werden und es nötig sein. Angenommen, die Kriegstreiber-Fraktion kontrolliert weiterhin den Kongreß, dann dürfte das Pentagon die von ihm geforderte Finanzierung zur Fortsetzung dieses katastrophalen Kriegs bekommen, während es gleichzeitig den neuen Kalten Krieg gegen Rußland und China anheizt. Um die erneute Eskalation zu begründen, wird der Vorwurf lauten, die Taliban hätten - nach alleiniger Einschätzung der Militaristen in Washington natürlich - gegen irgendeine nebulöse Bestimmung von Trumps Friedensdeal verstoßen.

3. März 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang