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HISTORIE/304: 1969 erwog Nixon einen Atomangriff auf Nordkorea (SB)


1969 erwog Nixon einen Atomangriff auf Nordkorea

Alte Geheimdokumente beleuchten vergessene Episode des Kalten Kriegs


Häufiger als man denkt, ist es während des Kalten Krieges fast zu dem ersten Einsatz von Atomwaffen seit den Abwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 durch die US-Luftwaffe gekommen. Unvergessen bleibt die Kuba-Krise vom Herbst 1962, als die nuklearen Supermächte USA und Sowjetunion mehrere Tage lang am Rande eines Atomkrieges, der die Erde eventuell in eine radioaktiv verseuchte Kraterlandschaft verwandelt hätte, standen. Seit einigen Jahren weiß man, daß die Regierung Lyndon Johnsons in den Jahren 1963 und 1964 einen präventiven Nuklearangriff erwog, um die Volksrepublik China an der Fertigstellung ihrer ersten Atombombe zu hindern, wie auch, daß die Nachfolgeadministration Richard Nixons Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre wiederholt mit dem Gedanken spielte, mittels Kernwaffen eine für die USA positive Wendung des verlustreichen Vietnamkrieges herbeizuführen. In beiden Fällen hat man jedoch entschieden, daß die Kosten des Einsatzes der schrecklichsten Waffe der Welt dem Nutzen überwiegen würde, und sich gegen ihre Verwendung entschieden.

Vor wenigen Tagen ist bekannt geworden, daß man innerhalb der Nixon-Regierung während ihres ersten Amtsjahres 1969 auch über einen Atomangriff gegen Nordkorea diskutierte. Dies geht aus einst geheimen Dokumenten hervor, deren Freigabe das an der in der US-Hauptstadt angesiedelten George Washington University ansässige Forschungsinstitut National Security Archive unter Berufung auf das amerikanische Informationsfreiheitsgesetz (Freedom of Information Act) erwirkt hat. Der Historiker Robert Wampler hat die Dokumente gesichtet, ausgewertet und das Ergebnis als National Security Archive Electronic Briefing Book No. 322 mit dem Titel "How Do You Solve A Problem Like Korea - New Archive Document Collection Sheds Light On Nixon's Frustrating Search For Military Options" am 23. Juni im Internet veröffentlicht (Die Überschrift ist eine direkte Anspielung auf das Lied "How Do You Solve A Problem Like Maria" aus dem berühmten Musikal "The Sound Of Music", das 1965 mit Julia Andrews in der Rolle der Maria eine der erfolgreichsten Filme der Kinogeschichte (deutscher Titel "Meine Lieder - Meine Träume") wurde).

Anlaß für die Überlegung, Atomwaffen gegen Nordkorea einzusetzen, war der Abschuß eines US-Spionageflugzeuges durch nordkoreanische Streitkräfte über dem Japanischen Meer im Jahre 1969. Bei dem Abschuß waren alle 31 Mitglieder der Flugzeugbesatzung ums Leben gekommen. Auf Bitten von Nixons damaligem Nationaler Sicherheitsberater und späterem Außenminister Dr. Henry Kissinger arbeitete man im Pentagon unter der Leitung des damaligen US-Verteidigungsministers Melvin Laird eine Reihe von Vergeltungsoptionen aus, die nach wenigen Tagen dem Kriegskabinett vorgelegt und vom ihm diskutiert wurde.

Zu den vom Pentagon präsentierten möglichen Vergeltungsmaßnahmen gehörte eine Option mit dem Codenamen "Freedom Drop". Sie sah den Einsatz von taktischen Atomwaffen vor, mittels derer die USA sämtliche Befehlszentren, Luftwaffenstützpunkte und Marinehäfen der nordkoreanischen Streitkräfte sozusagen in einem Abwasch dem Erdboden gleichgemacht hätte. Aus einer einst geheimen Mitteilung Lairds an Kissinger, die von der National Security Archive ausgewertet wurde, heißt es, die Zahl der Todesopfer eines solchen Angriffs auf Seiten der Nordkoreaner "würde zwischen etwa 100 auf mehreren Tausend" liegen. Wie Geschichtswissenschaftler Wampler in seiner Analyse selbst anmerkt, gibt es keine Hinweise in den Dokumenten, daß die Nixon-Regierung jemals ernsthaft erwogen hat, diese Option in die Tat umzusetzen. Glücklicherweise blieb es bei der theoretischen Erörterung. Man verständigte sich darauf, auf den Einsatz von Atomwaffen nur dann zurückzugreifen, falls Nordkorea einen Luftangriff auf Südkorea starten sollte. Was die Vergeltung für die abgeschossene Spionagemaschine betrifft, so entschied man, es bei Säbelrasseln und diplomatischem Geplänkel zu belassen.

26. Juni 2010