Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

HISTORIE/321: Neues zu Israels Atomwaffenprogramm von Wikileaks (SB)


Neues zu Israels Atomwaffenprogramm von Wikileaks

Kissinger Papers lassen Israels Präsident Peres als Blender dastehen



Am 7. April hat die Enthüllungsplattform Wikileaks, deren Gründer, der Australier Julian Assange, sich seit dem Sommer 2012 aus Angst vor der Auslieferung in die USA in der Botschaft Ecuadors in London aufhält, 1,7 Million ehemals vertrauliche diplomatische Depeschen der Regierung in Washington veröffentlicht. Die Dokumente stammen aus dem Zeitraum 1973 bis 1976 und damit aus der Regierungszeit von US-Präsident Richard Nixon und dessen Nachfolger Gerald Ford. Dr. Henry Kissinger diente in der fraglichen Zeit zuerst Nixon und nach dessen unfreiwilligem Rücktritt 1974 infolge des Watergate-Skandals auch Ford als Außenminister. Das Kontingent wird deshalb in der englischsprachigen Presse die Kissinger Cables genannt. 205.901 der Dokumente sind Mitteilungen, die Kissinger entweder verfaßte bzw. von seinen Mitarbeitern im State Department verfassen ließ oder die an ihn gingen.

Während der achtjährigen republikanischen Herrschaft im Weißen Haus zwischen 1969 und 1977 war Kissinger die mit Abstand wichtigste Figur der internationalen Diplomatie. Er handelte mit den Vertretern Hanois den Friedensvertrag zur Beendigung des Vietnamkrieges aus, bereitete heimlich den historischen Besuch Nixons in der Volksrepublik China vor, erzielte zwischen den USA und der Sowjetunion Détente, sorgte dafür, daß der Yom-Kippur-Krieg 1973 zwischen Israel und Ägypten nicht zum Flächenbrand wurde, initiierte im selben Jahr den gewaltsamen Putsch der Militärs um General Augusto Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes in Chile und vieles mehr. Darüber ist auch einiges in den neuen Wikileaks-Enthüllungen zu lesen. In einer Depesche an Kissinger zum Beispiel, die Giovanni Benelli, ein ranghoher Vertreter des Vatikans, fünf Wochen nach dem chilenischen Putsch schrieb, tut der italienische Geistliche Berichte über Massaker an linken Oppositionellen in dem südamerikanischen Land als "kommunistische Propaganda" einfach ab.

Besonders interessant sind die Details über das israelische Atomwaffenprogramm, welche die neue Dokumentensammlung enthält. Offiziell verfügt Israel über keine Nuklearwaffen, besitzt jedoch nach Ansicht von Experten mehr als 200 einsatzfähige Atomsprengköpfe, die entweder per F-16- Kampfjet aus den USA oder per Rakete, die von den Delphin-U-Booten aus Deutschland abgefeuert werden, zum gewünschten Ziel befördert werden können. Seit Mordechai Vanunu, ein ehemaliger Techniker der Atomforschungsanlage Dimona in der Negev-Wüste, 1996 gegenüber der Londoner Sunday Times über die dortigen Aktivitäten auspackte und dafür im selben Jahr vom Mossad aus Italien nach Israel verschleppt wurde, ist die Existenz des israelischen Atomwaffenarsenals ein offenes Geheimnis. Sie darf aber niemals zugegeben werden, sonst müßten die USA ihre umfangreichen alljährlichen Waffenlieferungen für Israel wegen des gesetzlichen Verbots der militärischen Hilfe an Staaten, die am Atomwaffensperrvertrag vorbei nuklear aufrüsten, einstellen.

John F. Kennedy war der letzte US-Präsident, der auf ausländische Inspektionen in Dimona drängte. Aus einst vertraulichen Regierungsdokumenten, die Ende 2007 vom Nationalarchiv in Washington freigegeben wurden, weiß man, daß sich Nixon und Kissinger 1969 anläßlich des bevorstehenden Besuchs der damaligen israelischen Premierministerin Golda Meir in den USA überlegten, wie sie Israel zum Beitritt in den ein Jahr zuvor zustande gekommenen Atomwaffensperrvertrag bewegen könnten, das Unterfangen jedoch letztlich als aussichtslos aufgegeben haben. In einem Dialog mit Nixon wird Kissinger diesbezüglich mit den Worten zitiert: "Es handelt sich um ein Programm, über das uns die Israelis wiederholt getäuscht und für das sie uns eventuell bestohlen haben".

Wie die Kissinger Cables zeigen, setzte Tel Aviv die Täuschungsmanöver nach der Ablösung Nixons durch Ford fort. In einer Mitteilung der US-Botschaft in Tel Aviv an das State Department in Washington vom Januar 1975 wird über den Besuch des republikanischen US-Senators Charles Mathias aus Maryland beim damaligen israelischen Außenminister Yigal Allon berichtet. Über Mathias' Frage nach den israelischen Nuklearfähigkeiten heißt es: "Allon antwortete, daß Israel in der Lage sei, Atomwaffen herzustellen. Trotzdem, erklärte er, daß die [Regierung Israels] derzeit keine Atomwaffen besitze, noch beabsichtige sie, welche zu produzieren."

Etwas später im selben Jahr besuchte der damals einflußreiche republikanische Senator aus Tennessee, Howard Baker, Israel, wo er Gespräche mit dem damaligen israelischen Premierminister Yitzhak Rabin und dessen Verteidigungsminister, dem heutigen Präsidenten Shimon Peres, führte. Ein Thema der Unterredung war das israelische Atomprogramm. In einer Mitteilung, die von der US-Botschaft in Tel Aviv an die US-Botschaft in der türkischen Hauptstadt Ankara ging, heißt es: "Rabin erklärte Senator Baker, daß sich die GOI [Government of Israel] verpflichtet hat, nicht als erster Staat Atomwaffen in der Region einzuführen. Israel hat sein Wort gehalten". Im selben Dokument ist zu lesen, wie Peres Baker versichert, daß Israel am Bau einer Atombombe nicht interessiert sei, weil es Spannungen mit den USA mit sich brächte und zu einer Verbreitung von Kernwaffen im Nahen Osten führen würde. "Peres, in Antwort auf eine direkte Frage, stellte fest, daß Israel keinen militärischen atomaren Sprengkörper hergestellt hat." Womöglich hat Peres Baker belogen. Experten gehen davon aus, daß sich Israel spätestens 1973 im Besitz der ersten Atomsprengköpfe befand.

In einer anderen Mitteilung vom Sommer 1975 wird Rabin dahingehend zitiert, Israel sei dem Atomwaffensperrvertrag deshalb nicht beigetreten, weil es die Frage "als Teil des Themas des Wettrüstens in der Region und einer umfassenden politischen Lösung" des Nahostkonfliktes betrachtet. Im November 1976 besuchte ein Gruppe von US-Senatoren Israel unter anderem mit der erklärten Absicht, die Forschungs- und Kernkraftwerksanlage Dimona zu besichtigen. In einer Mitteilung, welche die US-Botschaft in Tel Aviv kurz danach verfaßte, wird über das Scheitern der Senatoren mit ihrem Vorhaben berichtet. Israel hatte ihnen den Besuch in Dimona mit der Begründung, er wäre "nicht hilfreich", einfach verwehrt.

In einer einst geheimen Mitteilung, die Kissinger bereits am 19. Juli 1969 für Nixon zum Thema Nahost anläßlich des bevorstehenden Besuchs Golda Meirs im Weißen Haus verfaßte, hatte der spätere Friedensnobelpreisträger ein gewisses Verständnis für die Position Tel Avivs in der Nuklearfrage aufgebracht. Dennoch konnte er sich folgender Erkenntnis nicht verschließen: "Bei den Israelis, die eines der wenigen Völker darstellen, deren Überleben tatsächlich bedroht ist, herrscht mehr als bei jedem anderen Land die Wahrscheinlichkeit vor, daß sie von ihren Atomwaffen Gebrauch machen könnten." Bis heute ist diese Gefahr nicht nur nicht gebannt, sondern das Schreckenszenario droht sich wegen des anhaltenden Streits um das iranische Kernenergieprogramm jederzeit zu verwirklichen.

10. April 2013