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HISTORIE/327: Streit in Großbritannien um Irak-Invasion dauert an (SB)


Streit in Großbritannien um Irak-Invasion dauert an

Mutmaßlicher Kriegsverbrecher Blair kämpft um seinen Ruf


In Großbritannien tobt der Streit um den Einmarsch in den Irak im Jahr 2003 weiterhin auf einem hohen Niveau. Die Entscheidung, an der Seite der USA das "Regime" Saddam Husseins gewaltsam zu stürzen, gilt als schwerster außenpolitischer Fehler Londons seit der Suez-Krise 1956. Erstens basierte die Begründung für die Invasion - Saddams "Massenvernichtungswaffen" bzw. Bagdads vermeintliche Verbindungen zum Al-Kaida-"Netzwerk" Osama Bin Ladens - auf manipulierten Geheimdiensterkenntnissen und keinen harten Fakten. Zweitens haben die angloamerikanischen Invasoren, statt aus dem Irak einen Musterstaat mit blühender Wirtschaft und Demokratie zu machen, das Pulverfaß Nahost zum Explodieren gebracht. Die Folgen sind aktuell ganz besonders in Syrien, im Jemen und im gigantischen Flüchtlingsstrom Richtung Europa zu sehen.

Im Vorfeld des Einmarsches war der Widerstand in Großbritannien gegen den Krieg enorm. Die Mehrheit der Bürger glaubte die Schauergeschichten nicht, welche ihnen Premierminister Tony Blair und US-Präsident George W. Bush über die vermeintliche Bedrohung des Iraks für den Weltfrieden präsentierten. Dies gilt insbesondere für die Behauptung, im westlichen Irak stationierte Scud-Raketen, die womöglich biologische oder chemische Kampfstoffe enthielten, könnten innerhalb von 45 Minuten nach dem Erhalt eines entsprechenden Befehls aus Bagdad auf britische Basen auf Zypern abgefeuert werden - womit in diesem Fall Großbritanniens Recht auf Selbstverteidigung begründet werden sollte. Am 15. Februar 2003, vier Wochen vor der Invasion, am Tag der weltweiten Friedensdemonstrationen, gingen in Großbritannien mehr als zwei Millionen Menschen, davon mehr als eine Million in London bei der größten Massenveranstaltung in der Geschichte des Landes, gegen den bevorstehenden Krieg auf die Straße.

Recht bald nach dem Beginn des Irak-Überfalls am 19. März stellte sich heraus, daß Saddams ABC-Waffen und Bagdads Zusammenarbeit mit der Bin-Laden-Truppe frei erfunden worden waren. Als der staatliche Biowaffenexperte David Kelly am 17. Juli 2003 unter merkwürdigen Umständen tot aufgefunden wurde, wenige Tage nachdem er als diejenige Quelle im britischen Verteidigungsministerium entlarvt worden war, von der BBC-Reporter Andrew Gilligan Hinweise auf die Manipulation von Geheimdiensterkenntnissen zu Zwecken der Kriegspropaganda durch die Blair-Regierung erhalten hatte, brach eine Kontroverse aus, die seitdem nicht mehr abgerissen ist. Es war die fortlaufende Bekanntgabe pikanter Details, welche die Kontroverse am Leben hielt: darunter die Warnung des damaligen Chefs des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, Richard Dearlove, an das Blair-Kabinett im Juli 2002, wonach die Geheimdiensterkenntnisse der Amerikaner zum Thema Irak dem aggressiven Kurs der Bush-Administration angepaßt wurden und nicht umgekehrt, oder die Enthüllung, wonach die Information des MI6 über den möglichen Abschuß irakischer Raketen auf Zypern von einem Taxifahrer in Bagdad stammen sollte, der sich auf ein entsprechendes Gespräch zwischen zwei Fahrgästen berief.

Erst 2009, zwei Jahre nachdem Blair als Premierminister zurückgetreten war, hat dessen Nachfolger Gordon Brown dem öffentlichen Druck nachgegeben und eine Untersuchungskommission unter der Leitung des erfahrenen ehemaligen Ministerialbeamten Sir John Chilcot zum Thema Irakkrieg und den Hintergründen der britischen Beteiligung einberufen. Sechs Jahre später - die öffentlichen Anhörungen gingen bereits 2011 zu Ende - liegt der Abschlußbericht der Irak-Untersuchungskommission noch immer nicht vor. Dieser Umstand sorgt in der britischen Öffentlichkeit für immer mehr Verärgerung. Diverse Personen, von Premierminister David Cameron bis hinunter zu Rose Gentle, Sprecherin der Familien der im Irak gefallenen britischen Soldaten, haben in den letzten Wochen ihren Unmut und ihre Ungeduld darüber, daß Chilcot seinen Abschlußbericht nicht längst veröffentlicht hat, zum Ausdruck gebracht.

Einer der Hauptgründe für die Verzögerung ist die Verschleppungstaktik der Personen, die wie Blair und Dearlove im Mittelpunkt der Kritik stehen und deshalb von ihrem Recht, vorab den mehrere hundert Seiten langen Bericht auf mögliche Fehler und diffamierende Stellen zu überprüfen, Gebrauch machen. Schwierigkeiten machen auch die US-Behörden, welche Dokumente aus der Bush-Ära nicht freigeben und nur ganz allgemein gehaltene Zusammenfassungen der Gespräche, welche die Vertreter Londons mit den Kollegen in Washington im Vorfeld des Krieges führten, erlauben. Blairs damalige Entwicklungsministerin Clare Short hat den Berichtsentwurf bereits gelesen und war daovn wenig beeindruckt. Ihr zufolge wird die Schuld für das Irak-Desaster auf so viele Schultern - Politiker, Militärs, Ministerialbeamte, Geheimdienstler - verteilt, daß die Hauptverantwortlichen am Ende eigentlich entlastet werden.

Der Chilcot-Bericht ist in letzter Zeit unter anderem wegen der möglichen rechtlichen Folgen für Ex-Premierminister Blair zum heiß diskutierten Thema geworden. Der aussichtsreichste Kandidat für den zu besetzenden Posten des Vorsitzenden von Blairs sozialdemokratischer Labour Party ist der altlinke Abgeordnete Jeremy Corbyn aus London, der 2002 zu den Hauptorganisatoren der großen Antikriegsdemonstration gehörte. Corbyn hat vor kurzem in einem Interview eine Auslieferung Blairs an das internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nicht ausschließen wollen. Nicht zuletzt deshalb hat Blair in mehreren Gastbeiträgen für die britische Presse die eventuelle Wahl Corbyns zum Labour-Chef zum Untergang der britischen Sozialdemokratie hochstilisiert und den Parteimitgliedern dringend davon abgeraten. Auch der amtierende britische Finanzminister George Osborne hat vor zwei Tagen Corbyn wegen dessen erklärtem Ziel der Abschaffung des britischen Atomwaffenarsenals als "Bedrohung der nationalen Sicherheit" bezeichnet. Beide Männer befürchten tatsächlich, daß ein Vertreter der sozialdemokratischen Linken die Labour Party bei der nächsten Unterhauswahl in fünf Jahren zum Sieg führen könnte. Im Vergleich zu Osborne ist die Furcht des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Blair jedoch weniger ideologischer als ganz persönlicher Natur.

1. September 2015


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