Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

JUSTIZ/650: Der Fall Aafia Siddiqui - ein Mysterium ohnegleichen (SB)


Der Fall Aafia Siddiqui - ein Mysterium ohnegleichen

Rätsel um jahrelangen Aufenthaltsort der einzigen "Topterroristin"


In dem Dickicht aus Behauptungen, Mutmaßungen, Spekulationen und gelegentlich handfesten Fakten, die den Hintergrund dessen bilden, was wir seit dem 11. September 2001 den "globalen Antiterrorkrieg" nennen, weist kein Fall mehr Rätsel und Merkwürdigkeiten auf als der von Aafia Siddiqui. Für die US-Behörden ist die 1972 geborene, pakistanische Wissenschaftlerin das einzige weibliche Führungsmitglied des Al-Kaida-"Netzwerkes" von Osama Bin Laden, die mit Geldwäsche, Edelsteinschmuggel und ähnlichem an der Vorbereitung von Anschlägen auf Ziele auf dem amerikanischen Festland beteiligt war. Dagegen stellt sie für internationale Menschenrechtsaktivisten und die meisten Pakistaner eines der gebeuteltsten Opfer der ganzen Anti-Terror-Hetze Washingtons dar und soll rund fünf Jahre lang als einzige Frau im berüchtigten Gefangenenlager auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Bagram nahe der afghanischen Hauptstadt Kabul verbracht haben und dort gefoltert und vergewaltigt worden sein.

Von 1990 an lebte Siddiqui in den USA, wo sie zuerst an der University of Texas in Houston und danach am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) studierte. 2001 promovierte sie an der ebenfalls renommierten Brandeis-Universität Neurowissenschaft. Während ihres Aufenthaltes in den USA hat sie sich nachweislich bei islamischen Wohltätigkeitsvereinigungen engagiert, die nach dem 11. September ins Blickfeld von FBI und CIA gerieten. Ende 2001, Anfang 2002 ging Siddiqui mit ihrem Ehemann - von dem sie sich kurze Zeit danach trennte - und zwei Kindern nach Pakistan zurück. Nach Angaben ihrer Familie verschwand sie im März 2003 bei einem Ausflug mit ihren inzwischen drei Kindern. Im April desselben Jahres meldete die Times of India die Festnahme Siddiquis durch die pakistanische Polizei und ihre Übergabe an die amerikanischen Behörden. Danach galt sie bei Freunden und in der Familie als wie vom Erdboden verschwunden. Es wurde spekuliert, daß Siddiqui jene geheimnisvolle Insassin von Bagram sei, die die dort inhaftierten Männer niemals zu sehen bekamen, deren herzzereißendes Weinen und Schreien aber ihnen häufig des Nachts den Schlaf raubte.

Die ersten Erkenntnisse über Siddiquis vermeintliche Parallel-Karriere als "Topterroristin" wollen die US-Behörden vom 9/11-Chefplaner Khalid Sheikh Mohammed (KSM) persönlich nach dessen angeblicher Festnahme im März 2003 in Karatschi erfahren haben. Bezeichnenderweise hat das US-Justizministerium in Washington jedoch niemals Anklage gegen die Pakistanerin wegen Verwicklung in irgendwelche geplante oder durchgeführte Anschläge erhoben, sondern sie lediglich als Person von Interesse bezeichnet, mit der man über dieses und jenes sprechen möchte. In den vergangenen Jahren haben namhafte Persönlichkeiten wie der pakistanische Politiker Imran Khan, das frühere Cricket-Idol, und die britische Journalistin Yvonne Ridley, die beide über die Berichte vom Schicksal der geheimen "Gefangenen 650" in Bagram erschüttert waren, die Freilassung Siddiquis gefordert.

Im August letzten Jahres meldeten die Regierung in Washington die Festnahme Siddiquis in Afghanistan und ließ sie in die USA überstellen. In New York will man ihr den Prozeß machen, weil sie bei ihrer Festnahme im Juli 2008 in Afghanistan Schüsse auf mehrere US-Soldaten abgegeben haben soll, jedoch dabei niemanden traf. Da stellt sich die Frage, warum man eine unspektakuläre Straftat, nämlich den mehrfachen versuchten Mord, der von einer Pakistanerin im ohnehin kriegsgebeutelten Afghanistan begangen worden sein soll, vor einem US-Bundesgericht verhandeln will. Könnte der Grund sein, daß die Hinweise, die auf Siddiquis "terroristische" Aktivitäten hindeuten sollen, so dürftig sind, daß man sie nicht der Überprüfung durch ein ordentliches Gericht aussetzen will?

Jedenfalls soll am heutigen 6. Juli vor dem Bundesbezirksgericht im New Yorker Stadtteil Manhattan die Frage erörtert werden, ob Siddiqui überhaupt verhandlungsfähig ist. Ihre Anwälte und die von ihnen beauftragten Psychologen behaupten, daß die Angeklagte geistig unzurechnungsfähig ist, und zwar aufgrund der schweren Torturen, welche sie in Bagram über sich ergehen lassen mußte. Dagegen attestieren die vom FBI engagierten psychiatrischen Gutachter Siddiqui die volle geistige Gesundheit und wollen sogar herausgefunden haben, daß sie während der Jahre des Verschwundenseins frei in Afghanistan und Pakistan gelebt hat. Bei Vernehmungen des FBI soll Siddiqui zum Beispiel zugegeben haben, 2005 am Karachi Institute of Technology gearbeitet, einige Zeit in Quetta, der Taliban-Hochburg im pakistanischen Belutschistan, gewohnt und sich 2007 auf der Suche nach einem neuen Ehemann nach Afghanistan begeben zu haben. Dies geht aus einer Meldung der Associated Press vom 4. Juli mit der Überschrift "Details emerge on woman accused of al-Qaida ties" hervor.

Widersprochen werden diese Angaben von Siddiquis eigener Familie, von offiziellen Dokumenten des pakistanischen Geheimdienstes, welche die Festnahme und Übergabe an das FBI im März 2003 belegen sollen, sowie von den entsetzlichen Bildern vom letzten Jahr, als die Wissenschaftlerin von Afghanistan in die USA überführt wurde. Sie zeigten ein menschliches Wrack, das nicht allein unter der einen Schußverletzung, die sich Siddiqui bei der vermeintlichen Festnahme wenige Tage zuvor in Afghanistan zugezogen haben soll, litt, sondern durch jahrelange Mißhandlungen sprichwörtlich zugrundegerichtet worden war. Wenig überraschend lösten im letzten Jahr bei Millionen von Pakistanern die Bilder des leiderfüllten Gesichts und geschundenen Körpers Siddiquis Mitleid und Empörung aus.

Als Argumemt, warum Siddiqui nicht geistig krank sein soll, sondern diesen Zustand lediglich simuliert, verweist nach Angaben der New York Times vom 6. Juli Dr. Gregory Saathoff, psychiatrischer Gutachter des Justizministeriums, auf das Motiv der Angeklagten, einem Prozeß und eventuellen Urteil zu entgehen, um nach Pakistan zurückkehren zu können. Doch bei alledem, was Siddiqui in den letzten Jahren in den Händen der USA offenbar durchgemacht hat, kann man ihr ein solches Motiv schwer verdenken. Eines steht jedenfalls fest: durch die weitere Verfolgung von Aafia Siddiqui werden die Amerikaner keine Verbündeten in Pakistan für den Kampf gegen Taliban und Al Kaida gewinnen, sondern genau das Gegenteil erreichen.

6. Juli 2009