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LATEINAMERIKA/2148: Bolivien stimmt über eine neue Verfassung ab (SB)


Meilenstein bei der angestrebten Neugründung der Nation


Als Evo Morales vor drei Jahren als erster indígener Präsident Boliviens sein Amt antrat, stellte er das kühne Vorhaben in Aussicht, die Nation neu zu gründen. Am Sonntag sind die Bolivianer aufgerufen, in einem Referendum über die neue Verfassung abzustimmen, die zu den tragenden Pfeilern im Reformwerk der Regierung zählt. Wird der Entwurf mehrheitlich angenommen, wovon die meisten Beobachter ausgehen, wäre das ein weiterer eindrucksvoller Schritt in Richtung einer Gesellschaft, in der die indígene Mehrheit nicht länger ausgegrenzt und erniedrigt, die Kluft zwischen Arm und Reich verringert und der nationale Reichtum weit stärker als in der Vergangenheit zum Nutzen aller bolivianischen Bürger verwendet wird.

Einheimische Eliten und ausländische Kritiker haben Morales unisono vorgehalten, er spalte das Land mit seiner Politik und rufe Konflikte hervor, die zu Lasten aller Bolivianer gingen. Dieser Vorwurf mutet absurd an und stellt die herrschenden Verhältnisse auf den Kopf, ist doch der arme Andenstaat geradezu ein Musterbeispiel gesellschaftlicher Polarisierung. Während die überwiegend hellhäutigen Abkömmlinge europäischer Einwanderer das östliche Tiefland mit seinen fruchtbaren Agrarflächen und reichen Bodenschätzen bewohnen, lebt die mehr oder minder ausgegrenzte und verelendete indígener Mehrheit überwiegend im kargen westlichen Hochland, soweit sie nicht im Dienst der gehobenen Klassen der Ostprovinzen steht.

Dies als natürliche und gerechte Ordnung aufzufassen und zu verteidigen, spiegelt das Interesse der herrschenden Klassen wie auch ausländischer Kräfte wieder, deren Geschäfte unter diesen Verhältnissen blühen und gedeihen. Wenn Evo Morales also über die Maßen verteufelt und von einer Heerschar erbitterter Gegner weit radikaler darstellt wird, als er tatsächlich ist, so verdankt sich dieser Haß dem Umstand, daß der Staatschef an einer alten Ordnung rüttelt, die sich aus Klassenzugehörigkeit, Rasse und Kultur speist.

Wer Morales den Ausbruch von Unruhen und gewaltsame Übergriffe zur Last legt, unterschlägt geflissentlich, daß sich der Präsident durchweg legaler und mehrheitsgestützter Mittel bedient hat, während die Opposition immer wieder ihr Heil in der Eskalation des Konflikts suchte und mitunter sogar einen Bürgerkrieg provozierte. So wurden der Regierung weitreichende Kompromisse abgenötigt, die Morales mehr als einmal den Vorwurf radikalerer Kräfte einbrachte, er vernachlässige die Mobilisierung seiner Anhänger und gebe dadurch beträchtliche Teile des gemeinsamen Vorhabens preis.

Obgleich die Billigung einer neuen Verfassung zweifellos ein bedeutender Erfolg für Evo Morales und ein Meilenstein gesellschaftlicher Umgestaltung wäre, wird die Umsetzung ihres Inhalts noch das Werk vieler Jahre und weiterer Auseinandersetzungen sein. Die mehr als 400 Artikel des Entwurfs stärken insbesondere die Rechte der indígenen Bevölkerungsmehrheit, doch regeln sie auch Strukturen der Gesetzgebung neu und legen die Nationalisierung der Erdgasvorkommen fest. Besonders heftig umstritten waren Fragen der regionalen Autonomie, der Landreform sowie der Wiederwahl des Präsidenten, wobei die Regierung zu weitgehenden Kompromissen bereit war, um die oppositionellen Kräfte einzubinden und auf die neue Verfassung zu verpflichten.

23. Januar 2009