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LATEINAMERIKA/2149: Neue Verfassung in Bolivien angenommen (SB)


Opposition will die Umsetzung des Mehrheitsbeschlusses sabotieren


Bei dem Referendum über eine neue Verfassung in Bolivien haben sich Präsident Evo Morales und seine Regierung mit ihrem Vorhaben durchgesetzt. Rund 60 Prozent der abgegebenen Stimmen befürworteten eine Grundordnung, die unter anderem die Rechte der indígenen Bevölkerungsmehrheit stärkt und dem Staatschef eine weitere Amtszeit ermöglicht. In dem ärmsten Land Südamerikas verlief die Abstimmung der knapp vier Millionen Wahlberechtigten weitgehend friedlich, wie die mehr als 300 internationalen Wahlbeobachter, die den Ablauf des Urnengangs verfolgt hatten, bestätigen konnten. Ungeachtet der deutlichen Mehrheit für den Entwurf sind mehrere Provinzen des östlichen Tieflands nach wie vor gegen die neue Verfassung eingestellt und werden der Umsetzung des Projekts zweifellos noch manchen Stein in den Weg legen.

Die Verfassung wurde landesweit mit der erforderlichen einfachen Mehrheit der Wahlberechtigten angenommen, während sie die Wahlbürger in oppositionellen Provinzen wie erwartet mehrheitlich ablehnten. Die höchste Zustimmung wurde aus den Hochlandprovinzen Potosí und La Paz gemeldet, während die Gegner der neuen Verfassung in den Provinzen Tarija, Beni und Santa Cruz in Führung lagen.

Der 49jährige Morales spricht im Zusammenhang mit dem nun gebilligten Verfassungsentwurf von einer Neugründung des Landes. Er folgt mit seiner Vorgehensweise seinen Verbündeten in der Region, den Präsidenten Venezuelas und Ecuadors, Hugo Chávez und Rafael Correa. "Brüder und Schwestern, hier endet der Kolonialzustand", rief Evo Morales nach Bekanntgabe des Ergebnisses vom Balkon des Präsidentenpalastes Quemada seinen Anhängern zu. "Ab jetzt haben die bislang Ausgeschlossenen und an den Rand Gedrängten dieselben Rechte wie jeder andere auch. Hier beginnen wir, wahre Gleichheit für alle Bolivianer zu erreichen." Morales, der dem Volk der Aymara angehört und erster indígener Präsident seines Landes ist, charakterisierte die Volksabstimmung als den Höhepunkt eines jahrhundertelangen Kampfes, dessen Wurzeln bis in die Zeiten der spanischen Eroberung zurückreichen.

So setzt sich die neue Verfassung in ihrem Kern aus Bestimmungen zusammen, die der indígenen Bevölkerungsmehrheit mehr Rechte geben sollen. Insbesondere erhalten 36 ihrer Nationen Garantien für eine Selbstbestimmung, wobei kleineren Völkern neben den Aymara und Quechua Sitze im Parlament reserviert werden. Zudem erkennt der Staat die traditionelle Gemeinschaftsjustiz an. Damit ist Bolivien künftig ein Vielvölkerstaat, der Glaubensfreiheit garantiert. Den indianischen bäuerlichen Völkern und Nationen ist der Schutz ihrer kulturellen Identität, ihrer sozialen wie politischen Strukturen und Institutionen zugesichert. Zudem garantiert der Staat das Recht auf Ernährung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Arbeit, Rente, Trinkwasser und angemessene Entlohnung. Auch sollen die Richter des Obersten Gerichts gewählt und nicht mehr vom Präsidenten ernannt werden.

Bemerkenswert ist auch die Festlegung einer Obergrenze für Landbesitz. Allerdings kam die Regierung der Opposition im östlichen Tiefland beim Verfassungsentwurf sehr weit entgegen, indem die dortige Landwirtschaft de facto von der Obergrenze ausgenommen sein soll. Darüber hinaus erhalten diese Provinzen eine größere Autonomie.

In einer zweiten parallelen Abstimmung entschied die Bevölkerung, ob die Höhe des privaten Landbesitzes in Zukunft 5.000 oder 10.000 Hektar nicht überschreiten darf. Dabei sprachen sich 78 Prozent der Stimmberechtigten für eine Begrenzung von 5.000 Hektar aus. Derzeit sind 50.000 Hektar Privatland erlaubt. Die Regierung hat indessen betont, daß die neue Obergrenze nicht rückwirkend gilt. Daher wird sich am bestehenden Grundbesitz zunächst nichts ändern. Jedoch erlaubt die neue Verfassung dem Staat zukünftig Land zu beschlagnahmen, das seine "landwirtschaftliche und soziale Funktion" nicht erfüllt.

Im Mittelpunkt zahlreicher Kontroversen stand die Amtszeit des Präsidenten. Die bislang geltende Verfassung sieht im Höchstfall zwei Amtszeiten vor, die jedoch nicht direkt aufeinander folgen dürfen. Künftig soll es dem bolivianischen Staatschef möglich sein, zwei Amtszeiten von jeweils fünf Jahren in Folge zu absolvieren. Dies würde es Evo Morales ermöglichen, den Andenstaat bis 2014 zu regieren. Morales hatte ursprünglich drei Amtszeiten angestrebt, um sein Reformwerk sicher auf den Weg zu bringen und zu begleiten. Eine Mehrheit des Parlaments setzte das Referendum jedoch erst an, nachdem er im Oktober darauf verzichtet hatte.

Der Präsident weiß bei seiner Reformpolitik die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. So erhielt er bei einer Volksabstimmung über seine Amtsführung im August 2008 eine Unterstützung von 67 Prozent. Obgleich die Regierung in La Paz jeden wesentlichen Schritt ihres politischen Entwurfs zur Abstimmung stellt und immer wieder um Deeskalation bemüht war, hatte die Kontroverse um die neue Verfassung 2007 schwere Unruhen ausgelöst, die in den meisten Fällen von der Opposition angestachelt wurden. Damals kamen drei Studenten ums Leben, und diese Opferzahl wurde im September 2008 noch einmal deutlich übertroffen, als dreizehn Anhänger des Präsidenten in einem regelrechter Massaker getötet wurden.

Abgelehnt wurde die neue Verfassung auch von den christlichen Kirchen, die sich gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehen verwahrten. Obgleich der gebilligte Entwurf ein zwischen Regierung und Opposition ausgehandelter Kompromiß ist, denkt die Opposition offenbar nicht daran, das Ergebnis der landesweiten Volksabstimmung zu respektieren. So gestanden die Regierungsgegner um Ruben Costas keineswegs ihre Niederlage ein, sondern werteten das Wahlergebnis für sich als Erfolg, weil in vier der neun Provinzen die Nein-Stimmen überwogen. Morales genießt vor allem die Unterstützung der verarmten indianischen Bevölkerung, während die Opposition in der europäisch-stämmigen Bevölkerungsgruppe in den fruchtbaren Tieflandprovinzen stark ist. "Die Nein-Stimmen haben den Verrückten einen Riegel vorgeschoben, die unser Land zerstören wollen", hetzte Oppositionschef Ruben Costas.

Nicht minder deutlich wurde Carlos Dabdoub, ein politischer Führer der Provinz Santa Cruz. Wie er verkündete, könne keine neue Verfassung Gültigkeit erlangen, die nicht in allen Provinzen befürwortet worden sei. Zugleich deutete die Opposition an, sie wolle einige der von der neuen Verfassung vorgesehenen Gesetze im Parlament scheitern lassen. Um die geplanten rund 100 Gesetze umzusetzen, kann Morales nicht umhin, mit der Opposition zusammenarbeiten. Hier sehen die Regierungsgegner ihre Chance, die Mehrheitsentscheidung zu ignorieren und die neue Verfassung zu unterlaufen.

Die Verfassung gewährt der Regierung eine stärkere Kontrolle der nationalen Sourcen und der Wirtschaft, was natürlich von all jenen einheimischen und ausländischen Interessengruppen mit Argwohn bewertet wird, die ihre Profite beeinträchtigt sehen und sich jeder sozialen Verantwortung für die in Armut lebende Bevölkerungsmehrheit Boliviens entziehen. Zu den schärfsten Kritikern der bolivianischen Regierung und ihrer Reformpläne zählt auch die politische Führung in Washington, was um so mehr gilt, seit die US-Drogenbehörde und der US-Botschafter des Landes verwiesen worden sind, die DEA unter dem Vorwurf der Spionagetätigkeit, der Chefdiplomat wegen fortgesetzter Kungelei mit den oppositionellen Provinzfürsten.

26. Januar 2009