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LATEINAMERIKA/2181: Rio errichtet Betonmauern um die Favelas (SB)


Vorgeblicher Umweltschutz zur Sozialkontrolle instrumentalisiert


Wie rasch Umweltschutz Gefahr laufen kann, der administrativen Durchdringung der Gesellschaft Vorschub zu leisten und zur Sozialkontrolle instrumentalisiert zu werden, illustriert eine Maßnahme der Verwaltung in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro, über die die Neue Zürcher Zeitung in ihrer gestrigen Ausgabe berichtet hat. Dort sollen mindestens 40 Favelas mit bis zu drei Meter hohen Betonmauern umgeben werden. Wo die Mauern gezogen werden, müssen die Menschen weichen. Soweit bislang bekannt, sollen rund 600 Häuser in elf Slums zerstört werden, um Platz für die Betonabsperrungen zu schaffen. Angeblich sollen die betroffenen Bewohner in Neubauten untergebracht werden, die man innerhalb der Favelas errichten will.

Wie der Chef der Baubehörde des Staates Rio de Janeiro, Icaro Moreno, angekündigt hat, sollen in diesem Jahr elf Elendsviertel mit Zementblöcken eingemauert werden und bis Ende nächsten Jahres etwa 30 weitere folgen. Als offizielle Begründung dieses Vorhabens führen die Behörden an, der unkontrollierten Ausbreitung der Slumgebiete und der daraus resultierenden Zerstörung des Regenwalds müsse Einhalt geboten werden. Nach Angaben der Behörden wurden in den vergangenen drei Jahren im Umfeld der Riesenstadt mit ihren sechs Millionen Einwohnern rund 200 Hektar Wald zerstört, wofür man in erster Linie die Ausbreitung der Favelas verantwortlich macht. Jahr für Jahr verliere man mehr vom Atlantischen Regenwald, erklärte Moreno bei einem Ortstermin zur Begutachtung der ersten Bauarbeiten. Nun stecke man die Grenzen ab, innerhalb derer sich die neuen Viertel ausbreiten können.

Wenngleich an der fortschreitenden Zerstörung des Regenwaldes kein Zweifel bestehen dürfte, mutet sie als vorgebrachtes Argument für die Einmauerung der Elendsviertel doch schon auf den ersten Blick wie ein willkommener Vorwand an, die Viertel der Armen nachhaltiger von den Wohngebieten der Reichen zu trennen. Wenig glaubwürdig und grundsätzlich fragwürdig ist die Zusage, die durch den Mauerbau verdrängten Bewohner würden in Neubauten innerhalb des einbetonierten Bereichs untergebracht. Zweifellos soll dieses Lockmittel möglichen Widerstand befrieden und eine angebliche Verbesserung in Aussicht stellen. Erfahrungsgemäß wird im Vorfeld derartiger Zwangsmaßnahmen viel versprochen, später aber wenig eingehalten. Doch selbst wenn die Zusage neuer Wohnungen tatsächlich erfüllt werden sollte, die ja nicht ihrerseits eine Ausweitung der Favela zur Folge haben dürfen, ist damit selbst für diesen Personenkreis vermutlich wenig gewonnen, aber sehr viel mehr aufs Spiel gesetzt.

Wenn man die ungezügelte Ausbreitung der Favelas als Problem definiert hat, kommt man um deren Ursache in Gestalt einer unablässigen Migration verarmter Menschen vom Land in die Stadt nicht herum. Mauern um die Quartiere der Armen zu bauen, gleicht der Errichtung eines Staudamms, bei dessen Bau die nachströmenden Wassermassen völlig ausgeblendet werden. Offenbar hofft die Administration, daß sich die Menschen in den Favelas auf absehbare Zeit eben noch dichter zusammenballen und die zwangsläufig daraus resultierende Konflikte auf diese Viertel beschränkt bleiben.

Die Errichtung von Betonmauern folgt der Logik von Gefangennahme und Einschluß riesiger Menschenmassen, die man nicht versorgen kann und will. Die Slums sich weitgehend selbst zu überlassen, entsprach einer Strategie der Ausgrenzung, die zunehmend brüchig geworden ist. So brachen in jüngerer Zeit mitunter bewaffnete Gruppen aus Favelas hervor und besetzten vorübergehend Teile der Innenstadt, um ihr Potential zur Konfrontation zu unterstreichen. Umgekehrt sind an den Zugängen der Favelas Polizeiposten präsent, haben paramilitärische Gruppen die Macht in manchen Vierteln übernommen. Mitunter belagerten und stürmten Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte die Favelas, wobei im Zuge der damit verbundenen Feuergefechte zahlreiche Menschen starben oder verletzt wurden.

Trennt die Armut als solche schon die Bewohner der Elendsviertel von ihren wohlhabenderen Landsleuten, von deren Lebensweise sie weitgehend ausgeschlossen sind, so rückt die polizeiliche und militärische Regulation der potentiellen Revolte immer weiter ins Zentrum administrativer Strategien. Die Errichtung von Mauern um die Favelas fungiert in diesem Zusammenhang weit über ein bloßes Symbol hinaus als Vervollkommnung eines Gefängnisses oder Lagers, in dem man wachsende Teile der Bevölkerung einpfercht und zugleich noch angreifbarer macht, als dies ohnehin schon der Fall ist.

4. April 2009