Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2261: Brasilien träumt vom Aufstieg zur Erdölmacht (SB)


Regierung will staatliche Kontrolle des Ölsektors ausbauen


Der brasilianische Traum vom Aufstieg zu einer bedeutenden Nation, der man im Kreis der Weltmächte Sitz und Stimme nicht länger verweigern kann, ist eng mit der Bedeutung seines wachsenden Erdölsektors verbunden. Nicht nur als Brotkorb der Welt oder innovativer Vorreiter auf Einzelsektoren industrieller Entwicklung wie insbesondere beim Agrotreibstoff wollen die Brasilianer ihre Ansprüche geltend machen, sie verfügen inzwischen auch über die weitaus größten weltweit noch zu erschließenden Ölvorkommen. Während die Debatte längst um das absehbare Ende der fossilen Brennstoffe kreist, könnte die führende Wirtschaftsmacht Südamerikas die Landkarte der Ölreserven entscheidend verändern und damit ihren Einfluß erheblich ausbauen. Wie die Präsenz im Quartett der BRIC-Staaten mit Rußland, Indien und China zeigt, denkt die brasilianische Führung weit über den Subkontinent hinaus. Andererseits sind die Wirtschafts- und Lebensverhältnisse im eigenen Land derart polarisiert, daß hochindustrialisierte Sektoren neben Elendsgebieten und Wohnghettos der Reichen in unmittelbarer Nachbarschaft der Favelas von einem extremen Sozialkampf zeugen.

Die Regierung Präsident Luiz Inácio Lula da Silvas gilt als eine der wirtschaftsfreundlichsten des Kontinents, wobei sie es zugleich verstanden hat, gewisse Sozialreformen auf den Weg zu bringen. Der ehemalige Arbeiterführer im Präsidentenpalast hat sich insofern als Dompteur unvereinbarer Widersprüche bewährt, als er die Geschäfte beflügelt und das Millionenheer der Armen und Ausgegrenzten im Zaum gehalten hat. Die Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion in einer Zeit globalen Hungers, eine relative Stabilität angesichts der Weltwirtschaftskrise und nicht zuletzt die immensen Ölvorkommen vor der Atlantikküste haben Brasilien im Meer der Katastrophen und Hiobsbotschaften zu einer aus den Fluten aufsteigenden Insel gemacht. Präsident da Silva hat auf diesen Entwicklungen aufgesattelt und den Ritt forciert, was seiner Popularität im eigenen Land und seinem Gewicht in den internationalen Beziehungen außerordentlich förderlich war.

Als Zwitter aus Entwicklungsland und Industriemacht kann Brasilien keineswegs sicher sein, daß sich die Vision seines Aufstiegs eines nicht allzu fernen Tages in die Wirklichkeit umsetzen läßt. Lieferanten begehrter Rohstoffe, zu denen insbesondere Erdöl und Nahrungsmittel gehören, sind deswegen noch lange keine einflußreichen Nationen, sondern in der Regel eher Opfer kolonialer und imperialistischer Ausbeutung. Entscheidend bleibt das militärische Potential, die eigenen Interessen allen Widrigkeiten zum Trotz weltweit durchzusetzen, wozu in erster Linie die Vereinigten Staaten in der Lage sind, die daher auf absehbare Zeit nicht untergehen können, was immer man auch über die Schwäche ihrer Wirtschaft und Währung fabuliert. Demgegenüber bleibt Brasilien trotz seiner Modernisierung der Streitkräfte und Aufrüstung ein militärischer Zwerg, auch wenn dieser mit Hilfe seines Atomprogramms eine Abkürzung sucht. Daß dieser Staat seinen eigenen Bewohnern wie auch den Nachbarn mitunter wie ein freundlicher Riese, doch schon im nächsten Augenblick wie ein furchterregendes Monstrum vorkommen mag, liegt auf der Hand.

Will Brasilien von den gigantischen Ölvorkommen tief unter dem Atlantik profitieren, müssen diese mit einem beispiellosen Einsatz modernster Technologie erschlossen werden, die gewaltige Summen verschlingt. Das würde die Verwertung dieser Reserven für gewöhnlich zum Tummelplatz multinationaler Ölkonzerne machen, während für das Förderland nur ein Bruchteil der realisierten Profite abfällt. Um den eigenen Erdölsektor und insbesondere die Lagerstätten vor der Küste enger einzubinden und die Erlöse zu steigern, will die Regierung die Öffnungen und Privatisierungen der Branche aus den 1990er Jahren teilweise rückgängig machen und neben Petrobras einen weiteren staatlichen Ölkonzern gründen, dem die Vorkommen in der Tiefsee vor der Küste überschrieben werden sollen. Entscheidungen über die Ölpolitik werden zunehmend in einem der Regierung untergeordneten Nationalen Rat für die Energiepolitik (CNPE) gefällt, wodurch der staatliche Einfluß auf die Erdölbranche auch institutionell wächst. [1]

Wie Probebohrungen in den letzten drei Jahren bestätigt haben, sind die Lagerstätten vor der Küste so gewaltig, daß sich die brasilianischen Reserven mindestens um die Hälfte, womöglich aber um ein Vielfaches erhöhen. Während andere Ölvorkommen des Landes langsam zu Neige gehen, dürften weitere Bohrungen im Atlantik bestätigen, daß dort entweder eine Vielzahl ergiebiger Felder oder sogar ein zusammenhängendes riesiges Vorkommen erschlossen werden kann. Das klassische Modell der Offshore-Lizenzen sieht vor, dem meistbietenden Konzern den Zuschlag zu geben, der zwar die Erschließungskosten tragen muß, jedoch auch die später geförderte Ölmenge besitzt. So oder ähnlich sieht es vielerorts auf der Welt aus, wo multinationale Konzerne auf lange Sicht über die Profite verfügen und den Nachschub für die Industriestaaten sichern. Das neue Modell der brasilianischen Regierung sieht demgegenüber vor, daß künftig derjenige Bieter den Zuschlag erhält, der dem neuen Staatskonzern den größten Teil der Fördermenge überläßt. Grundsätzlich soll die staatlich kontrollierte Petrobras an allen neuen Ölfeldern das Fördermonopol erhalten und damit der einzige Konzern sein, der in den Offshore-Feldern Öl fördern darf. In- und ausländische Privatkonzerne können lediglich als Kapitalgeber an der Prospektion und Förderung teilnehmen.

Da der Meeresboden in mehr als 6.000 Meter Tiefe liegt und die Ölfelder zudem von dicken Schichten Treibsand und Salz bedeckt sind, gilt die Erschließung als das bislang schwierigste Vorhaben in der Geschichte der Ölförderung. Andererseits handelt es sich um die größte neuentdeckte Ölreserve, die von zentraler Bedeutung für die weltweite Versorgung im nächsten Jahrzehnt werden könnte. Würde man weiterhin multinationalen Konzernen das Feld überlassen, könnte diese gewaltige Ölquelle aller Wahrscheinlichkeit nach rascher sprudeln. Die brasilianische Regierung geht ein beträchtliches Risiko ein, an den immensen technischen Problemen und Kosten zu scheitern. Sollte es ihr aber gelingen, das Gesetz gegen alle politischen Widerstände im Parlament durchzubringen und erfolgreich umzusetzen, winken dem Land bedeutend höhere Erlöse, die Schaffung zahlreicher Arbeitsplätze, die Verfügung über die weltweit führende Technologie auf diesem Gebiet und nicht zuletzt eine größere strategische Kontrolle über die Ölförderung. [2]

Die Regierung will die erhofften Einkünfte dazu verwenden, Brasilien international mehr Gewicht zu verleihen und zugleich in die Milderung sozialer Probleme etwa im Bildungsbereich und Gesundheitswesen zu investieren. Diese Strategie ist essentiell, um die drohende Hungerrevolte abzuwenden oder zu dämpfen und somit die Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren. Andere Länder dieser Weltregion legen beredtes Zeugnis davon ab, welche Dynamik die massenhaft erhobene Forderung der Menschen entwickeln kann, die nationalen Sourcen nicht länger an ausländische Konzerne zu verschachern, um die einheimischen Eliten zu mästen.

Anmerkungen:

[1] Brasilien will Erdölsektor an die kurze Leine nehmen. Geplantes Fördermonopol und staatliche Konkurrenz für Petrobras (17.08.09)
Neue Zürcher Zeitung

[2] Brazil Seeks More Control Over Oil Beneath Its Seas (18.08.09)
New York Times

21. August 2009