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LATEINAMERIKA/2295: Brasiliens Präsident will Rios Image säubern (SB)


Sportspektakel als Vorwandslage auf dem Feld der inneren Sicherheit


In Rio de Janeiro wird 2014 die Fußballweltmeisterschaft und zwei Jahre später die Sommerolympiade ausgetragen. Diese beiden prestigeträchtigen Sportereignisse symbolisieren Brasiliens Ambitionen, sich von einem Schwellenland in den Kreis der führenden Industriestaaten zu katapultieren und Einfluß auf maßgebliche weltpolitische Entwicklungen zu nehmen. Die angestrebte Stärke nach außen korrespondiert mit einem wachsenden Zugriff im Innern, zumal die gesellschaftliche Polarisierung extremer kaum sein könnte und die Herrschaftssicherung mit einer um sich greifenden Hungerrevolte konfrontiert wird.

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva begegnete Befürchtungen, die prekäre Sicherheitslage Rios könnte die beiden sportlichen Großereignisse in Mitleidenschaft ziehen, mit der markigen Erklärung, die Regierung werde die anhaltende Gewalt in den Favelas anpacken und das "schmutzige Image Rios säubern". Umgerechnet rund 40 Millionen Euro sollen demnach in die Sicherheit der Metropole investiert werden, in der nach dem Abschuß eines Polizeihubschraubers am Wochenende eine neue Stufe eskalierender Auseinandersetzungen erreicht worden ist, die auch in ausländischen Medien deutliche Spuren hinterließ. [1]

Ein Drittel der sechs Millionen Einwohner Rio de Janeiros lebt in den rund tausend Favelas, wo die Armut Verlaufsformen der Überlebenssicherung hervorbringt, die gemeinhin mit Gewalt und Kriminalität beschrieben und damit zu einem Problem administrativer, polizeilicher und militärischer Eingriffe und Sanktionen erklärt werden. Wenn davon die Rede ist, die brasilianische Regierung habe dem ausufernden Verbrechen in den Slums den Kampf angesagt, heißt das nicht zuletzt, daß damit auch den dort lebenden Menschen ein Krieg erklärt wird, der nur dem Namen nach dem Drogenhandel gilt.

Laut offizieller Statistik wurden 2008 im Bundesstaat Rio de Janeiro mit seinen 14,5 Millionen Einwohnern 5.717 Morde registriert. Ein Jahr zuvor entfielen auf die Sechsmillionenstadt Rio 1.260 Mordfälle, die meisten von ihnen in der Nordzone. Diese Zahlen geben jedoch nicht annähernd die tatsächlichen Gewaltverhältnisse wieder, denn wie es im Dezember 2008 hieß, seien in der Stadt seit Januar 2007 mehr als 9.000 Menschen verschwunden. [2]

Bei den blutigen Auseinandersetzungen vom letzten Wochenende starben 22 Menschen, darunter vierzehn Bewohner der beiden Armenviertel Morro dos Macacos und Jacarezinho, die im Verlauf des stundenlangen Schußwechsels ins Feuer der beiden Seiten gerieten. Daß es sich bei den Toten wie immer in derartigen Fällen nach Version der Polizei größtenteils um Drogenhändler handeln soll, unterstreicht nur die Deutungshoheit der Sicherheitskräfte, die ihre Vorgehensweise nachträglich legitimieren und die Opfer pauschal diskreditieren.

An Bord des Hubschraubers der Militärpolizei, der über einer Favela im Norden der Stadt die Gefechtslage sondierte, befanden sich dem Vernehmen nach sechs Insassen, als der Pilot von Schüssen am Bein getroffen wurde. Ihm gelang zwar eine Notlandung, doch explodierte der Hubschrauber am Boden. Zwei Polizisten starben sofort, der Pilot und ein weiterer unverletzter Polizist konnten die beiden schwerverletzten Beamten bergen. Einer von diesen erlag im Krankenhaus seinen Verbrennungen, der andere wird in einer Klinik behandelt. [3]

Nach diesem Vorfall kündigte ein Polizeisprecher im Fernsehsender Globo einen unbefristeten Einsatz gegen die Drogenbanden an und erklärte, man werde "unermüdlich arbeiten, um diese Kriminellen ausfindig zu machen und zu fassen". Heute waren mehr als 1.700 Polizisten auf der Suche nach den Tätern. Präsident da Silva bot dem Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro, Sergio Cabral, jegliche benötigte Hilfe an, wovon er auch die Bundespolizei nicht ausschloß. Die Militarisierung der inneren Sicherheit hat in Brasilien längst Einzug gehalten. Schon während der Panamerikanische Spiele 2007 war ein massives Aufgebot von Soldaten und Polizisten im Einsatz. "Wir werden weiter dafür arbeiten, daß Rio vor, während und nach den Spielen friedlich ist", versicherte Cabral nun.

Daß der Krieg den Drogenbanden gelte, welche die größte Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellten, blendet den Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren unermeßliche Armutsfolgen systematisch aus. Das gilt auch für andere Strategien sozialer Säuberung, die in Rio de Janeiro Hochkonjunktur haben. So findet hier die berüchtigte "Null-Toleranz"-Doktrin des früheren New Yorker Bürgermeisters Rudolph Giuliani ihre Nachahmer. Zwar wurde dessen repressives Polizeiprogramm wegen der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen massiv kritisiert und als brutale Verdrängungsmethode charakterisiert, die schlichtweg vertrieb und abschob, was nicht ins Bild der Ordnung paßte. Genau das fanden jedoch der Chef der Militärpolizei an der Copacabana, Oberst Celso Nogueira, bereits vor drei Jahren oder Anfang 2009 auch der neue Bürgermeister Eduardo Paes außerordentlich reizvoll.

Giulianis Doktrin folgend, wonach mit einer zerbrochenen Scheibe die Verwahrlosung beginnt, die nicht vor dem Schwerverbrechen endet, ging man auch in Rio repressiv gegen die kleinsten und häufigsten Verstöße und Straftaten vor. Der Polizist als Richter und Vollstrecker in einer Person vertrieb jeden, der seiner Einschätzung nach für Unordnung sorgte. Am Strand von Ipanema und anderen Anziehungspunkten für Touristen ging die Polizei rigoros gegen jeden vor, der ihrer Ansicht nach nicht in diese Umgebung paßte und als Störfaktor eingestuft werden sollte. Vertrieben oder bestraft wurden Straßenhändler ohne Lizenz, Taschendiebe, Verkehrsrowdys und natürlich Kinder und Jugendliche, die ihrem äußeren Erscheinungsbild und Verhalten nach aus den Favelas stammten oder auf der Straße lebten. Die Kampagne konzentrierte sich insbesondere auf die Beseitigung sämtlicher Notquartiere von Bettlern und den Abtransport von Straßenkindern in lagerähnliche Unterkünfte. Auf diese Weise sprang die Polizei brutal mit den Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft um, damit die Lebensqualität der wohlhabenderen Schichten nicht beeinträchtigt wurde.

Man stufte Armut als Sicherheitsrisiko für die Reichen ein, und so wurde im Schatten der Luxushotels und Umfeld der vielbesuchten Strände der Versuch zahlloser armer Menschen, ihr tägliches Überleben mit Hilfe dessen zu sichern, was an solchen Orten vom Auftreten des Wohlstands abfällt oder abgezweigt werden kann, erbarmungslos vereitelt. Von einer Lösung sozialer Probleme kann dabei natürlich keine Rede sein, da das Elend in einem primitiven Propagandamuster zur Folge fehlender Moral und Sittenstrenge erklärt und ausgegrenzt wird.

Eine Ausgrenzung der Armut stellt auch das Vorhaben dar, zahlreiche Favelas mit bis zu drei Meter hohen Betonmauern zu umgeben. Als offizielle Begründung führen die Behörden eine unkontrollierte Ausbreitung der Slumgebiete an, die den angrenzenden Atlantischen Regenwald zerstöre. Allein in den letzten drei Jahren seien im Umfeld der Riesenstadt rund 200 Hektar Wald vernichtet worden, wofür man in erster Linie die wuchernden Favelas verantwortlich macht. Auf diese Weise wird Umweltschutz zur Sozialkontrolle instrumentalisiert, liefert er doch einen ausgezeichneten Anlaß, die Viertel der Armen nachhaltiger von den Wohngebieten der Reichen zu trennen.

Wo die Mauern gezogen werden, müssen Hunderte Häuser weichen, um Platz für die Absperrungen zu schaffen. Ob das Versprechen gehalten wird, die betroffenen Bewohner würden in Neubauten untergebracht, die man innerhalb der Favelas errichten will, steht in den Sternen. Wie alle Erfahrung lehrt, wird im Vorfeld solcher Zwangsmaßnahmen das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Doch selbst wenn die Zusage neuer Wohnungen erfüllt werden sollte, entkommen die Menschen der Favela nicht, in der sie nur noch enger zusammengeballt werden sollen.

Die Favelas mit Betonmauern einzuschließen, erinnert nicht von ungefähr an die Gefangennahme in einem Lager, dessen Insassen man nicht versorgen kann und will. Die Strategie der Ausgrenzung ist so alt wie die Slumgebiete selbst, deren Bewohner weitgehend ihrem Schicksal überlassen werden. Da jedoch in jüngerer Zeit mitunter bewaffnete Gruppen aus den Favelas hervorbrachen und vorübergehend Teile der Innenstadt besetzten, um ihr Potential zur Konfrontation unter Beweis zu stellen, spitzt sich die Auseinandersetzung an dieser Bruchlinie der gesellschaftlichen Widersprüche weiter zu.

Die Zugänge zu vielen Favelas werden von Polizeiposten kontrolliert, in manchen Vierteln haben paramilitärische Gruppen die Macht übernommen. Immer wieder belagern oder stürmen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte die Armenquartiere, worauf im Zuge der damit verbundenen Feuergefechte zahlreiche Menschen sterben oder verletzt werden. Das geschah auch am vergangenen Wochenende, als ein Polizeiangriff auf die Favela Morro dos Macacos die Schießereien auslöste. Auf diese Weise rückt die polizeiliche und militärische Regulation der potentiellen Revolte immer weiter ins Zentrum administrativer Strategien, wofür die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro eine maßgeschneiderte Vorwandslage liefert.

Anmerkungen:

[1] Brasilien investiert Millionen in Rios Sicherheit (20.10.09)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5hc7jzxDJco7U0Xq0MwC6Ns3phJlw

[2] Nach Schießerei in Rio (20.10.09)

http://www.sueddeutsche.de/panorama/252/491617/text/

[3] Rio de Janeiro. Polizei kämpft gegen Drogenbanden - 17 Tote bei Kämpfen. (19.10.09)
http://www.focus.de/politik/ausland/rio-de-janeiro-polizei-kaempft- gegen-drogenbanden-17-tote-bei-kaempfen_aid_446236.html

20. Oktober 2009