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LATEINAMERIKA/2342: Zwangsumsiedlung soll haitianischer Hungerrevolte den Boden entziehen (SB)


Administrative Verwertung der humanitären Katastrophe


Der Sündenfall einer siegreichen Erhebung schwarzer Sklaven gegen die führende Militärmacht ihrer Zeit in der Gestalt des napoleonischen Frankreich hatte der Suprematie weißer Kolonialherrschaft einen fundamentalen Schlag versetzt, der das Gefüge gottgewollter und menschengemachter Herrschaft bis auf seine Grundfesten zu erschüttern drohte, sollte das Beispiel Schule machen. Ungeheure Reparationsforderungen und eine internationale Blockade erwürgten die erste schwarze Republik der Weltgeschichte, die erst die zweite Republik der westlichen Hemisphäre nach den Vereinigten Staaten war, welche die Unterwerfung Haitis um ihrer eigenen Sklaven willen maßgeblich vorantrieben. Der nach opferreichen und grausamen Kämpfen vom kolonialen Joch befreite Westteil der Insel Hispañola blieb Zeit seiner Existenz ein Labor der Zerstörung aller Ansätze einer substantiellen eigenständigen Entwicklung und der Zerschlagung allen Aufbegehrens, das die Kumpanei einheimischer wie ausländischer Machthaber in mehr als zwei Jahrhunderten niemals auszulöschen vermochte.

Dies erklärt den ungeheuren Eifer, mit dem sich die Heerschar von Administratoren jeder Couleur angesichts der unermeßlichen Katastrophe instinktsicher auf Haiti stürzt, das nun endgültig zerschmettert am Boden zu liegen und seine Fragmente jedwedem Zwangsregime auszuliefern scheint. Zerstört sind die Elendsquartiere von Port-au-Prince, deren Konzentration des Leidens in einem undurchdringlichen Labyrinth rudimentärer Armutsbehausungen den Besatzungsmächte seit jeher ein Dorn im Auge war. Zu Hunderttausenden getötet die Hungerleider, die sich Aristide nie aus dem Kopf schlagen ließen, wie hart Notlagen und Gewehrkolben sie auch drangsalierten. Sanieren will man nun das übriggebliebene Trümmerfeld, indem man es endgültig dem Erdboden gleichmacht und im Kalkül entsorgt, mit dieser Hygienemaßnahme den aus der Verzweiflung einer erniedrigten Existenz geborenen Widerstand der Verdammten dieser Erde, um mit Frantz Fanon zu sprechen, zu eliminieren.

Wo sich Leichenberge türmen, bleibt die Frage unbeantwortet, ob man womöglich Zehntausende gerettet hätte, wäre die in aller Munde geführte humanitäre Hilfe rechtzeitig geleistet worden. Während die Amerikaner ihre Invasionstruppen positionieren, ihre Kriegsschiffe postieren und die strategische Kontrolle an sich gerissen haben, sondern die Repräsentanten der Vereinten Nationen und Vertreter der Hilfsorganisationen in wachsendem Zweifel und Unbehagen widersprüchliche Signale zur Lage im Katastrophengebiet ab. Nie war es so schwer, funktionsfähige Strukturen der Versorgung aufzubauen, und folglich nie so leicht, inmitten des unermeßlichen Leidens rückhaltlose Hilfe anzukündigen und zugleich das Gegenteil zu betreiben.

Wie die Regierung angekündigt hat, sollen Hunderttausende Menschen aus der zerstörten Hauptstadt vorübergehend umgesiedelt werden. Innenminister Paul Antoine Bien-Aime glaube, einer halben Million obdachlos gewordener Menschen in temporären Behausungen außerhalb von Port-au-Prince eine Unterkunft schaffen zu können. Mit 34 Bussen will man die Überlebenden der Erdbeben kostenlos in den Norden und Süden des Landes transportieren, wo die von der Katastrophe Heimgesuchten in Einrichtungen für jeweils 10.000 Menschen Platz finden sollen. Gemeinsam mit den Bürgermeistern suche man derzeit nach geeigneten Orten. [1]

Wer dabei an New Orleans denkt und das Schlimmste befürchtet, dürfte auf der richtigen Spur sein, obgleich sich die Elendsverwalter diesmal den taktischen Fehler verkneifen, ihre Absichten offen zutage treten zu lassen. So verheerend haben die Naturgewalten gewütet, daß rigorose Eingriffe breite Zustimmung finden, sofern sie nur den Eindruck vermitteln, es werde entschlossen zugepackt und aufgeräumt. Immer wieder eingestreute Gerüchte über angebliche Revolten, Plünderungen und marodierende Banden scheinen den vorrangigen Aufbau einer Sicherheitsarchitektur unverzichtbar zu machen, womit das Dementi von Helfern vor Ort nicht Schritt halten kann. Die argumentative Keule, nur die massive Präsenz von US-Soldaten und Blauhelmen könne Unruhen verhindern, schließt in ihrer Brachialgewalt mögliche Einwände rabiat aus.

Entwurzelung durch Zerschlagung bestehender sozialer Strukturen ist dabei das Leitmotiv, da man der haitianischen Hungerrevolte dauerhaft den Boden entziehen will. Daß man die Tore des Armenhauses Haiti keineswegs zu öffnen gedenkt, haben die Regierungen der USA und der Dominikanischen Republik unmißverständlich klargestellt, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die Fluchtbewegung soll im Lande selbst kanalisiert und reguliert werden, wobei man natürlich Begriffe wie Zwangsumsiedlung oder Lagerhaltung tunlichst vermeidet.

Daß bei der Katastrophenhilfe nicht alles mit rechten Dingen zugeht, hat inzwischen selbst die Medizinerzeitschrift "The Lancet" erkannt. Diese hält Hilfsorganisationen vor, sie behinderten durch Eigeninteressen und -Aktionen eine wirksame Unterstützung der Erdbebenopfer in Haiti. "Internationale Organisationen, nationale Regierungen und Nichtregierungsorganisationen mobilisieren sich zu Recht, aber kämpfen auch um Positionen", kritisierte das britische Magazin in einem Leitartikel. Wenngleich jeder behaupte, das Beste für die Überlebenden zu tun, sei die Lage nach wie vor "chaotisch, verheerend und alles andere als koordiniert". [1]

Zwar räumt "The Lancet" durchaus ein, daß die Helfer im Erdbebengebiet "außergewöhnliche Arbeit unter schwierigen Umständen" leisteten. Indessen handle es sich beim Hilfssektor "unzweifelhaft" um "eine Industrie", wobei internationale Organisationen und humanitäre Helfer oft "in starker Konkurrenz" zueinander stünden. "Verseucht durch internationale Machtpolitik und durch widerliche Züge, die in vielen großen Firmen zu finden sind, können große Hilfsorganisationen davon besessen sein, sich Geld durch eigene Aufrufe zu beschaffen." So werde die Medienberichterstattung über die Organisationen "zum Selbstzweck" und sei oft ein Ziel ihrer Aktivitäten.

Das sind ungewohnt harsche Worte für eine Publikation dieser Art, die erkennen lassen, wie irritierend die wachsende Diskrepanz zwischen tagtäglichen Hilfszusagen, Spendenfeiern und Erfolgsmeldungen auf der einen und dem Ausbleiben jeder Unterstützung für zahllose Erdbebenopfer auf der anderen Seite inzwischen geworden ist.

Anmerkungen:

[1] Obdachlose sollen nach Erdbeben in Haiti umgesiedelt werden (22.01.10)
http://de.news.yahoo.com/2/20100122/twl-obdachlose-sollen-nach- erdbeben-in-h-07995af.html

[2] Medizinerblatt "Lancet" kritisiert Hilfsorganisationen in Haiti (22.01.10)
http://de.news.yahoo.com/2/20100122/tsc-medizinerblatt-lancet- kritisiert-hil-c2ff8aa_1.html

22. Januar 2010