Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2367: Chiles neue Präsidentschaft instrumentalisiert die Katastrophe (SB)


Sebastian Piñera bringt Kabinett elitärer Technokraten in Stellung


So zynisch dies klingen mag, ist die Erdbebenkatastrophe in Chile für dessen gestern inaugurierten Präsidenten Sebastian Piñera doch aller Voraussicht nach ein Geschenk des Himmels. Nach diesem verheerenden Zusammenspiel von gewaltigen Erdstößen und dadurch ausgelösten Tsunamis drängt sich das ideologische Konstrukt, im Angesicht des erschütternden Schicksalsschlags alle gesellschaftliche Widersprüche für nachrangig zu erklären und ein gemeinsames Interesse des chilenischen Volkes zu postulieren, geradezu auf. Dies gilt um so mehr, als der neue Staatschef die Unmöglichkeit, auf die hereinbrechende Katastrophe angemessen zu reagieren, seiner Vorgängerin Michelle Bachelet anlasten kann. Ihr wirft man insbesondere vor, sie habe zu lange gezögert, die Streitkräfte einzusetzen, und damit Plünderungen und Raubzügen Vorschub geleistet. Piñera kann sich demgegenüber als starker Führer in Szene setzen, ohne Gefahr zu laufen, daß man seinen Aufstieg während der Diktatur mit den Panzern und Soldaten in Verbindung bringt, die heute vielerorts das Straßenbild in den Städten dominieren. Auch die Unerfüllbarkeit seiner maßlosen Versprechen dürften ihm nicht auf die Füße fallen, da er künftig geltend machen kann, der Wiederaufbau habe immense Kräfte gebunden.

Im Wahlkampf hatten die widerstreitenden Lager einander heftige Auseinandersetzungen geliefert, da abzusehen war, daß die Concertación, eine Koalition von Sozial- und Christdemokraten sowie kleinen Fraktionen, die einst die Diktatur Augusto Pinochets (1973-1990) abgelöst und das Land seither regiert hatte, am Ende war. Die populäre Präsidentin durfte laut Verfassung kein zweites Mal in Folge antreten und der Kandidat des Mitte-Links-Bündnisses, Eduardo Frei, scheiterte in der Stichwahl am 17. Januar mit einem knappen Rückstand von drei Prozentpunkten an dem Bewerber der Rechten, die zwei Jahrzehnte nach Ende der Militärjunta in den Präsidentenpalast zurückkehrte.

Michelle Bachelet blieb angesichts der noch immer anhaltenden Abfolge schwerer Beben, dessen bislang letztes die Amtseinführung Piñeras zeitweise in ein beinahe gespenstisches Szenario zu verwandeln drohte, kaum eine andere Wahl, als die Regierungsübergabe so reibungslos wie möglich zu regeln und sich insbesondere aller Bezüge auf die politische Kontroverse zu enthalten. Diese Differenzen spielten nun "eine zweit-, dritt- oder viertrangige Rolle", erklärte sie. Nun gehe es vor allem darum, die Folgen des Erdbebens zu bewältigen, da dies für Chile die Stunde der Einheit und Solidarität sei. [1]

Wenngleich die Naturkatastrophe wie so oft die ärmsten Bevölkerungsteile am härtesten traf und mithin die extreme soziale Polarisierung der chilenischen Gesellschaft der maßgebliche menschengemachte Faktor war, welcher die Verhältnisse verschlimmerte, wird Piñera alles daransetzen, dies vergessen zu machen. Er hatte seinen Wahlkampf mit einem Programm geführt, das die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die energische Durchsetzung von Recht und Ordnung in Aussicht stellte, und dürfte nun freie Hand haben, sich als "Präsident des Wiederaufbaus" zu gebärden und zugleich eine repressive Innenpolitik auf den Weg zu bringen. Noch auf Monate wenn nicht gar Jahre hinaus wird er Einwände gegen seine Programmatik mit dem Verweis auf die Schwäche der Vorgängerregierung in den Tagen größter Not abschmettern und seinen Landsleuten nahelegen, sie müßten die Zähne zusammenbeißen, um aufzubauen und nicht etwa das gemeinsame Werk durch Protest in Gefahr zu bringen. [2]

Piñeras Kabinett von 22 Mitgliedern ist fast ausschließlich mit Technokraten aus reaktionären Wirtschaftskreisen besetzt, die größtenteils Absolventen der konservativen Katholischen Universität von Santiago sind und zudem Abschlüsse US-amerikanischer Eliteschmieden gemacht haben. Der Milliardär im Präsidentenpalast hat selbst an Harvard in den Wirtschaftswissenschaften promoviert und nun seinesgleichen um sich geschart, um das Land im Stil eines Großunternehmers zu regieren.

Da die jüngere Generation keine persönliche Erinnerung an das blutige Regime der Militärs hat und die meisten Soldaten, die heute die Straßen patrouillieren, damals ebenfalls noch nicht geboren oder zu jung waren, um die Repression zu erfahren, kann sich die neue chilenische Führung durchaus Hoffnungen machen, neoliberale Grausamkeiten, restriktive Innenpolitik und einen außenpolitischen Konter zu einer widerwärtigen Renaissance der halbwegs überwunden geglaubten chilenischen Krankheit zu verrühren.

Anmerkungen:

[1] Erdbeben begrub politische Rivalität. Bachelet garantiert reibungslose Übergabe (11.03.10)
Neues Deutschland

[2] Chile Leader Enters Changed Political Landscape (10.03.10)
New York Times

12. März 2010