Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2376: Katastrophe Haitis zur Neugründung umdeklariert (SB)


Internationale Geberkonferenz für Haiti in New York


Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen kommt heute in New York die internationale Geberkonferenz für Haiti zusammen, die nicht nur den Wiederaufbau koordinieren und anschieben, sondern weit darüber hinaus den Weg in eine neue Zukunft des vollkommen zerstörten Karibikstaates ebnen soll. Bei diesem ambitionierten Entwurf stehen offenbar diverse Absichten Pate, die zumeist wenig oder gar nichts mit rückhaltloser Unterstützung der Haitianer auf Grundlage einer zugewandten Zusammenarbeit zu tun haben. Augenscheinlich fasziniert die Vorstellung, das verheerende Erdbeben habe das alte Port-au-Prince mit seinen Elendsvierteln so gründlich entsorgt, daß man durch Umsiedlung und Neuverteilung die Menschenmassen künftig regulierbarer plazieren kann, die Administratoren jedweder Couleur. Die assoziative Verknüpfung von Armut, Enge und Not mit Minderwertigkeit, Schmutz und Verbrechen hausiert mit dem Konzept einer Sanierung, das auf Vertreibung der Menschen und Zerschlagung ihres Zusammenhalts gründet.

Die Anhänger Präsident Jean-Bertrand Aristides, der durch einen von Washington hinterrücks unterstützten Putsch entmachtet und ins Exil getrieben wurde, lebten mehrheitlich in den vormals dichtbesiedelten Elendsquartieren der Hauptstadt. Diese Viertel zu durchdringen, fiel dem Besatzungsregime der Blauhelme so schwer, daß es mehrere Jahre dauerte, bis sie zumindest nach offizieller Lesart als zurückerobert und befriedet galten. Dennoch fürchten die neuen Machthaber noch heute die Rückkehr Aristides aus dem südafrikanischen Exil, weshalb ihm die USA eine Heimkehr verwehren. Dieses Potential des Widerstands zu brechen und zu zerstreuen, ist eines der wichtigsten Anliegen bei der vielzitierten Neugründung Haitis.

Dabei bleibt bislang völlig offen, mit welchen Mitteln und auf Grundlage welcher Planung dieser Neuaufbau in Angriff genommen werden soll. Man hat zahlreiche obdachlose Hauptstadtbewohner in andere Landesteile gekarrt, wo sie von kaum weniger armen Landsleuten aufgenommen und versorgt wurden, bis auch deren geringfügige Ressourcen aufgebraucht waren. Inzwischen hat bereits wieder eine Rückwanderung eingesetzt, da die Menschen in ihrer Not umherirren, um andernorts das Notdürftigste zur kurzfristigen Sicherung des Überlebens aufzutreiben. Zwischen den vollmundigen Politikerreden vom Neuaufbau des Landes und den tatsächlichen Verhältnissen in Haiti klafft eine unüberbrückbare Kluft, die ahnen läßt, daß die unablässige Ankündigung großer Taten nicht etwa die Vorstufe ihrer Ausführung, sondern im Gegenteil ein Propagandamanöver zur Kaschierung andersgelagerter Absichten ist.

Obgleich inzwischen zweieinhalb Monate seit dem Erdbeben vom 12. Januar vergangen sind, bei dem über 230.000 Menschen starben und schätzungsweise 1,3 Millionen obdachlos wurden, fehlt es noch immer am Nötigsten. Nach Angaben des UNO-Kinderhilfswerk UNICEF sind mehr als 45.000 Menschen in Flüchtlingslagern von Überschwemmungen und Erdrutschen bedroht, rund 1,5 Millionen Kinder leiden unter den Folgen der Katastrophe. Kurz vor Beginn der Regenzeit leben in der Hauptstadt Port-au-Prince 700.000 Menschen in Zeltlagern, was befürchten läßt, daß diese notdürftige Form der Unterbringung auf lange Sicht die Lebensweise unzähliger Haitianer bleiben wird. Nicht umsonst verbindet man mit Lagern eine Variante der Verfügung, die irgendwo zwischen Gefangenschaft, Ausgrenzung und Unterversorgung angesiedelt ist. Haiti war schon vor der Naturkatastrophe ein Labor der Armutsregulation, in dem man studieren konnte, wie sich große Menschenmassen am Rand des Hungertods verwalten lassen, ohne sich in Revolten gegen ihre Wächter und die reichen Eliten des Landes zu erheben. Das gilt um so mehr nach der Serie schwerer Erdbeben, die vor allem in der Hauptstadt dem Erdboden gleichgemacht haben, was an Bausubstanz und Wohnstruktur vorhanden war.

Schon vor dem Erdbeben war die Regierung nicht in der Lage, genügend Schulen und Krankenhäuser bereitzustellen oder auch nur die Müllabfuhr zu organisieren. Jahrzehntelange Entwicklungshilfe floß entweder in die Taschen von Profiteuren, die sich daran bereicherten, oder wurde in Projekten verbraucht, die an der grundsätzlichen Armut nichts änderten. Haiti blieb das Armenhaus des amerikanischen Kontinents mit einer Lebenserwartung, Unterernährung und Analphabetenrate auf dem Niveau des südlichen Afrika. [1]

Der Generalsekretär der Welthungerhilfe, Wolfgang Jamann, wies im Vorfeld der internationalen Geberkonferenz darauf hin, daß die chronischen Ursachen der Armut bekämpft werden müssen. Bei der Konferenz dürfe es nicht allein um die Geldsumme gehen, zumal Zusagen möglicherweise nicht eingehalten würden. Dringend erforderlich sei eine längerfristige Strategie, wofür Mittelzusagen in einem größeren Zeitrahmen auch aus deutscher Sicht eine unverzichtbare Voraussetzung seien. Daß nicht alle Zusagen eingehalten werden, muß man in diesem Zusammenhang als euphemistische Umschreibung der Misere bezeichnen. De facto herrscht erfahrungsgemäß zwischen Zusagen und letztendlich vor Ort verfügbaren Mitteln ein derart krasses Mißverhältnis, daß eines mit dem andern kaum noch etwas zu tun hat.

Die Geber schätzen den Bedarf für die kommenden Jahre auf insgesamt 11,5 Milliarden US-Dollar, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, daß es sich bei Größenordnung und Zeitdauer um weitgehend fiktive Werte handelt, die ein Produkt willkürlicher Rechenansätze sind. Wie die Erfahrung lehrt, zeichnen sich umfangreichere Bauvorhaben selbst in hochindustrialisierten Staaten in der Regel durch nicht eingehaltene Fristen und oftmals gewaltig überzogene Kostenvoranschläge aus, von jahrelangen Verzögerungen und Bauruinen ganz zu schweigen. Im Falle Haitis geht es jedoch um den Wiederaufbau der gesamten Hauptstadt, wenn nicht gar weiter Teile des Landes, weshalb man das dafür präsentierte Zahlenwerk in der Nähe bloßer Beliebigkeit ansiedeln muß.

Die haitianische Regierung schätzt den Bedarf für die kommenden 18 Monate auf knapp vier Milliarden US-Dollar, wofür unter anderem 1.300 Schulen und mehr als 50 Krankenhäuser gebaut werden sollen. Von dieser Summe wollen die USA ein Viertel aufbringen, während die EU-Kommission einen Beitrag von 1,3 Milliarden Euro für die kommenden drei Jahre angekündigt hat. Nach Angaben der Bundesregierung beteiligt sich Deutschland mit 179 Millionen Euro, von denen bislang 18,5 Millionen bereitgestellt worden sind. Obgleich der deutsche Beitrag von Hilfsorganisationen wie dem Evangelischen Entwicklungsdienst als zu gering kritisiert worden ist, hat der Haushaltsausschuß des Bundestags einen Sonderfond für Haiti abgelehnt.

Daß die genannten Summen nicht ausreichen würden, liegt auf der Hand, da nach den akuten Problemen, deren Bewältigung keinesfalls abzusehen ist, zunehmend die langfristigen Bedürfnisse der Bevölkerung zum Tragen kommen. Wäre für die dringend erforderlichen Unterkünfte gesorgt und eine funktionsfähige Infrastruktur in Angriff genommen, müßten in großem Umfang Arbeitsplätze geschaffen werden, um Erwerbsmöglichkeiten bereitzustellen. Haitis Präsident René Preval betont denn auch, daß es nicht genüge, Schulen, Krankenhäuser und andere Gebäude wieder aufzubauen. Vielmehr müsse das Land jetzt die Chance nutzen, aus dem Teufelskreis der Armut auszubrechen. Er sprach von einer "Neugründung" des Landes und entwarf sogar die kühne Vision, den Karibikstaat binnen zwei Jahrzehnten in den Rang eines "aufstrebenden Schwellenlands" zu befördern.

Unterstützt wird er beim Entwerfen von Luftschlössern von dem früheren US-Präsidenten und derzeitigen UNO-Sondergesandten für Haiti, Bill Clinton, der vor wenigen Tagen anläßlich eines Besuchs in dem Karibikstaat die Parole ausgab, dieses Land habe die beste Chance aller Zeiten, seiner Vergangenheit zu entkommen. Dieser völlig überzeichneten Prognose, welche die Verhältnisse auf den Kopf stellt und die katastrophale Lage zum Aufbruch in eine nie gekannte Blüte des Landes umdeklariert, steht der schon jetzt absehbare Ausschluß erheblicher Teile der haitianischen Bevölkerung von der Mitsprache bei der Gestaltung ihrer Zukunft gegenüber.

In der Vorbereitung des New Yorker Gipfels wurde ein 250 Seiten umfassender Wiederaufbauplan zwischen der Regierung und internationalen Gebern ausgehandelt, ohne die Bevölkerung zu beteiligen und nichtstaatliche Organisationen einzubeziehen. Von einer wirklichen Teilhabe der haitianischen Gesellschaft beim Wiederaufbau könne keine Rede sein, kritisierte unter anderem das katholische Hilfswerk Misereor. Berücksichtigt man zudem, daß die Reaktion der haitianischen Regierung auf das Erdbeben von der Mehrzahl der Betroffenen als ausgesprochen dürftig bewertet wird, läuft der Wiederaufbau auf ein Regime hinaus, in dem ausländische Kräfte dominieren.

Zwar fand ein ausländisches Protektorat unter Führung der UNO oder der USA keine Zustimmung bei den internationalen Gebern und der Regierung Haitis, doch ist die geplante Agentur aus Regierungsvertretern und Geldgebern, welche die Verwendung der Mittel koordinieren, kontrollieren und dokumentieren soll, als Zwischenmodell nicht allzu weit entfernt davon. Den Vorsitz dieser Agentur werden sich aller Voraussicht nach Bill Clinton und der haitianische Premierminister Jean-Max Bellerive teilen. Sitz und Stimmrecht im Vorstand dieses Gremiums hat jeder Spender, der sich mit mindestens 100 Millionen US-Dollar einkauft, wobei auch ein Schuldenerlaß in dieser Größenordnung angerechnet wird. Damit übernimmt ein Konsortium fremder Mächte die maßgebliche Schaltstelle beim Wiederaufbau Haitis. [2]

Der Einladung der Vereinten Nationen und der USA zur internationalen Geberkonferenz sind 136 Länder gefolgt, darunter einige der ärmsten wie etwa Eritrea. Wenn Minister, Delegierte und Hilfsorganisationen heute in New York über die weitere Vorgehensweise beraten, ist Deutschland durch Beamte des Außen- und des Entwicklungshilfeministeriums repräsentiert. Am Tag vor der Geberkonferenz wurde bekannt, daß die UNO eine geringe Spendenbereitschaft beklagt und Gelder etlicher Länder inzwischen versiegen. Kreuzt man den daraus abzuleitenden Verdacht, daß es sich bei den auf der Konferenz angemahnten Spendenzusagen in erster Linie um eine Inszenierung für das Publikum handelt, mit dem weitgehenden Ausschluß der haitianischen Gesellschaft von der Gestaltung des Wiederaufbaus, sieht es ausgesprochen düster für die vielzitierte Neugründung Haitis aus.

Anmerkungen:

[1] Eine neue Zukunft für Haiti. Bei der Geberkonferenz in New York soll der Wiederaufbau in Gang kommen (31.03.10)
http://www.domradio.de/aktuell/artikel_62793.html

[2] Bush, Clinton visit Port-au-Prince. Washington dictates terms to devastated Haiti (24.03.10)
World Socialist Web Site

31. März 2010