Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2378: Sintflut in Rio verwüstet Favelas (SB)


Naturkatastrophen bedrohen zuallererst die Armen


Wie bei den schweren Erdbeben in Haiti und Chile zeichnet sich auch nach den sintflutartigen Regenfällen, von denen der brasilianische Bundesstaat Rio de Janeiro heimgesucht worden ist, in aller Deutlichkeit ab, daß Naturkatastrophen unter den ärmsten Teilen der betroffenen Bevölkerung die verheerendste Wirkung entfalten. Was angesichts des Klimawandels künftig in noch weit stärkerem Maße als in der Vergangenheit für ganze Weltregionen wie Lateinamerika und in diesen wiederum insbesondere für die am schwächsten bemittelten Länder gilt, setzt sich angesichts der extremen sozialen Polarisierung auch und gerade in Schwellenländern wie Brasilien in Gestalt der höchsten Zahl an Todesopfern und absolut existenzgefährdenden Schadensfolgen in Elendsgebieten fort.

Der fromme Wunsch, die Rettung der Erde vor den Auswirkungen hemmungslosen Wachstums- und Expansionsstrebens könne und müsse die Menschheit unter Hintanstellung aller Widersprüche zusammenschweißen, erweist sich mithin schon angesichts der offensichtlichen Widerlegung des Axioms, daß alle gleichermaßen betroffen seien, als grüne Ideologie im Dienst der Verschleierung und Konsolidierung rasant wachsender existenzieller Ungleichheit. Die Beispiele Chiles und in noch unabweislicherem Ausmaß Haitis vor Augen, läßt die Militarisierung der Reaktion auf Naturkatastrophen darüber hinaus befürchten, daß die Eliminierung und administrative Ausgrenzung der Hungerleider im Gefolge derartiger Phänomene längst in das strategische Kalkül elitärer Überlebenssicherung integriert worden ist.

Nach den heftigen Unwettern zu Wochenbeginn, bei denen mit 28 Zentimeter Niederschlag in weniger als 24 Stunden ein Rekordwert in der Geschichte Rio de Janeiros erreicht wurde, und weiter anhaltenden Regenfällen ist die Zahl der Toten in dieser Region inzwischen auf fast 150 gestiegen. Da noch zahlreiche Menschen vermißt werden, gehen die Behörden von einem weiteren Anstieg aus. Neben der Metropole Rio wurde die rund dreizehn Kilometer entfernte Nachbarstadt Niterói am schlimmsten heimgesucht, wo ein weiterer gewaltiger Erdrutsch bis zu 40 Häuser unter sich begrub. Betroffen waren auch hier vor allem Slumsiedlungen an den steilen Hängen, an denen immer wieder aufgeweichte Erdmassen abzurutschen beginnen und als Schlammlawinen tiefergelegene Wohnstätten zermalmen und verschütten. [1]

Während in Rio de Janeiro bislang 46 Tote gezählt wurden, sind es in Niterói bereits 79 Todesfälle. Allein im sechs Millionen Einwohner zählenden Rio wurden rund 1.700 Menschen obdachlos und im ganzen Bundesstaat mußten mehr als 11.000 Bewohner aus ihren Häusern und Wohnungen flüchten. Wegen des starken Sturms und der unablässigen Regenfälle brach der Straßenverkehr zeitweise völlig zusammen. Umgestürzte Bäume blockierten die Straßen, Tunnel waren bis zur Decke überflutet und zahllose Fahrzeuge standen bis zum Dach im Wasser. Schulen und andere Einrichtungen wurden geschlossen, Flüge gestrichen oder verschoben, und das öffentliche Leben in der zweitgrößten Stadt Brasiliens kam vorübergehend zum Erliegen. Der Gouverneur des Bundesstaats Rio de Janeiro veranschlagte die Kosten für den Wiederaufbau und Vorbeugungsmaßnahmen auf umgerechnet mindestens 153 Millionen Euro. [2]

Die schwerste Flutkatastrophe in diesem Bundesstaat seit 1966 hat nach allgemeiner Auffassung so viele Todesopfer gefordert, weil seit den 1950er Jahren die inzwischen rund tausend Favelas in Rio ebenso wie die Armutsquartiere in anderen Städten durch massenhafte Zuwanderung infolge grassierender Verelendung unaufhaltsam gewachsen sind und sich in Abwesenheit jedweder Bauvorschriften an den steilen Abhängen ausgebreitet haben, die bei starken oder langanhaltenden Niederschlägen extrem gefährdet sind. Bürgermeister Eduardo Paes rief die Bewohner der Favelas an den Hügeln auf, ihre Häuser zu verlassen, da ihr Leben angesichts weiterhin möglicher Erdrutsche in akuter Gefahr sei. Berücksichtigt man jedoch, daß etwa ein Fünftel der Einwohner Rios in solchen Gebieten lebt, bleibt die naheliegende Frage unbeantwortet, wohin die Menschen gehen sollen, zumal sie dabei ihre wenige Habe zu verlieren drohen, selbst wenn ihre Wohnstätten unversehrt bleiben. Ebenso wie der bloße Ruf nach strengen Bauvorschriften mutet die Aufforderung, das Gefahrengebiet sofort zu verlassen, für sich genommen zynisch an, solange keinerlei Maßnahmen ergriffen werden, die betroffenen Menschen angemessen unterzubringen.

Die derzeit in allen Medien heiß diskutierte Frage, warum eine Metropole wie Rio de Janeiro angesichts ihrer langen Vorgeschichte von tropischen Regenstürmen und Überflutungen nicht auf diese Katastrophe vorbereitet war, ist zumindest in Teilen umgehend beantwortet worden. So steht fest, daß die Regierungen des Bundesstaats und die Stadträte von Rio Bundesmittel, die der Katastrophenvorsorge gewidmet waren, jahrzehntelang zweckentfremdet, fehlinvestiert oder in die eigene Tasche gesteckt haben. Stadtplaner und Umweltschützer hatten seit langem unzulängliche Investitionen, eine strukturlose Wohnungsbaupolitik und Korruption angeprangert. In der Tat existiert in Rio nicht einmal ein Warnsystem, von einer gezielten Prävention ganz zu schweigen. [3]

Eine zentrale Schwachstelle ist das alte und unterdimensionierte Abwassersystem der Metropole, das in erheblichen Teilen noch aus der portugiesischen Kolonialzeit stammt, als die Stadt nur einige tausend Einwohner zählte. Die Kanalisation war infolge der heftigen Regenfälle in kürzester Zeit überlastet, so daß sich nicht nur die Niederschläge stauten, sondern auch die Abwässer samt allem Unrat buchstäblich aus dem Boden schossen. Damit teilt Rio de Janeiro die prekäre Lage zahlreicher Großstädte in aller Welt, deren Kanalisation hoffnungslos veraltet und mürbe ist, weshalb die Politiker angesichts der horrenden Kosten einer Sanierung dieses Thema gar nicht erst auf die Tagesordnung setzen.

Vermutlich würde man auch diesmal so verfahren, wären da nicht die Prestigeprojekte der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016, die Rio de Janeiro als Austragungsort in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit rücken. Das Maracana-Stadion, in dem 2014 das Endspiel und zwei Jahre später die Eröffnungs- und Abschlußfeiern der Olympiade stattfinden werden, liegt im Norden der Stadt und damit inmitten eines Gebiets, das von den Fluten am schwersten betroffen war. Fernsehbilder von Feuerwehrleuten in Schlauchbooten, die Fahrgäste aus den städtischen Bussen retten mußten, liefen um die Welt und versetzten dem Vertrauen in die Zusage einen schweren Schlag, Rio werde selbstverständlich seine Transportprobleme rechtzeitig vor diesen sportlichen Großereignissen lösen. Eine Lokalzeitung wußte sogar zu berichten, daß erstmals in der Geschichte dieser Stadt der Verkehr im Zentrum und in Richtung Norden eine ganze Nacht lang zum Erliegen gekommen sei.

Während sich Bürgermeister Paes vorerst mit der Mahnung aus der Affäre zog, man habe angesichts der Rettungs- und Bergungsarbeiten Wichtigeres zu tun, als die Schuldfrage zu wälzen, rief Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva die Einwohner Rio de Janeiros auf, für ein Ende der Regenfälle zu beten. Wenn der alte Mann dort oben zornig ist und uns den Regen herabschickt, können wir ihn nur bitten damit aufzuhören, auf daß wir unser Leben weiterführen, sagte der Staatschef sinngemäß. Das waren volkstümliche Worte, die durchaus beschrieben, was angesichts dieser Sintflut die einzig wirksame Abhilfe wäre.

Andererseits wird Gottvertrauen allein nicht vor künftigen Katastrophen ähnlichen oder noch verheerenderen Ausmaßes schützen, die nicht nur Rio de Janeiro im Zuge des hereinbrechenden Klimawandels drohen. Wenngleich es vermessen wäre, Bedeutung und Möglichkeiten menschlicher Einflußnahme in der Absicht zu überhöhen, diese Probleme auf überschaubare Dimensionen kleinzureden, sieht sich Brasilien von der höheren Gewalt ganz abgesehen mit dem fundamentalen Widerspruch zwischen dem ambitionierten Höhenflug seiner Eliten, die sich bereits am Tisch der Großmächte sehen, und dem massenhaften Elend, aus dem sich dieser Aufstieg speist, konfrontiert.

Anmerkungen:

[1] Zahl der Toten nach Unwettern in Brasilien steigt weiter (08.04.10)
NZZ Online

[2] Unwetter in Rio de Janeiro. Neue Schlammlawine begräbt 40 Häuser unter sich (08.04.10)
http://www.faz.net/s/RubB08CD9E6B08746679EDCF370F87A4512/Doc~EF7F94D6BE88340E79A5F1E8DFF31ECD5~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[3] Rio floods: Why did more than 100 people die? (07.04.10)
The Christian Science Monitor

8. April 2010