Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2404: Chávez-Gegner wetzen Messer der Bezichtigung (SB)


Argumente bleiben auf der Strecke, Desinformation hat Hochkonjunktur


Die Liste der Todsünden, die Venezuelas Präsident Hugo Chávez in den Augen seiner Gegner begangen hat, könnte Buchseiten füllen. Allen voran der Schulterschluß mit den Basisbewegungen zur Schaffung einer partizipativen Demokratie, seine scharfe Kritik an der Hegemonialmacht USA und sein Internationalismus haben Entwicklungen wiederbelebt und neu definiert, die nicht nur in Lateinamerika als ausgerottet galten. Gleich, ob es sich dabei im Einzelfall bislang eher um Anstöße oder bereits um fortgeschrittene Veränderungsprozesse handelt, birgt der angelegte Kurs ein Potential, dessentwegen ihm erbitterte Feindschaft entgegenschlägt, die von Verleumdung in den Medien über Finanzierung der Opposition aus dem Ausland bis hin zu nie endgültig aufgegebenen Umsturzplänen keine Variante ausspart. Es wäre naiv anzunehmen, daß Washington kein Arsenal strategischer und taktischer Entwürfe und Operationspläne in der Schublade hat, das auch eine militärische Intervention einschließt. Nicht minder blauäugig wäre es, die europäischen Mächte von der Absicht freizusprechen, einen fundamentalen politischen Richtungswechsel in Venezuela zu betreiben. Und ebenso wenig haben sich die Kräfte der Reaktion im Lande selbst mit ihrer Niederlage abgefunden.

Die US-venezolanische Journalistin Eva Golinger hat jüngst unter Berufung auf ein Papier der rechtsgerichteten spanischen Denkfabrik FRIDE aufgedeckt, daß venezolanische Oppositionsgruppen jährlich zwischen 40 und 50 Millionen US-Dollar zu dem Zweck erhalten, ihren Kampf gegen die Regierung Chávez und den von ihr proklamierten Sozialismus des 21. Jahrhunderts weiterzuführen. Wie Golinger auf ihrer Internetseite "Postcards from the Revolution" schreibt, muß der bislang geschätzte Wert der Förderung antirevolutionärer Gruppen von 15 Millionen US-Dollar deutlich nach oben korrigiert werden. Die Autoren des FRIDE-Reports sprechen demnach von erheblich höheren Summen, die dafür bereits aufgewendet werden, und fordern zugleich eine weitere Aufstockung der Gelder. [1]

Von dieser ausländischen Finanzierung profitieren Parteien wie die rechtspopulistische Primero Justicia (PJ, "Zuerst Gerechtigkeit"), die christdemokratische Copei und die sozialdemokratische UNT ("Eine neue Zeit"), die in den Putschversuch gegen die Regierung Chávez vom April 2002 verstrickt waren. Der Bericht der Denkfabrik bezeichnet die venezolanische Regierung als "semi-autoritär" und bedient sich damit derselben Sprachregelung wie die halbstaatliche US-Stiftung "National Endowment for Democracy" (NED) oder die US-Stiftung "Freedom House", die für den Sturz der Chávez-Regierung eintreten.

Verantwortliche Autorin des FRIDE-Berichts ist die deutsche Politologin Susanne Gratius, die unter anderem in der Konrad-Adenauer-Stiftung publiziert hat und als Mitarbeiterin der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik für ihre Arbeit bei der spanischen Denkfabrik bis Ende Mai 2011 beurlaubt ist. Dies wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die deutsche Beteiligung an der Unterstützung der venezolanischen Opposition. Nach Angaben Eva Golingers überweist die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung jährlich eine halbe Million Euro an Copei und PJ sowie 70.000 Euro an die oppositionell kontrollierte katholische Universität "Andrés Bello" in Caracas. Auch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung läßt ihrer Partnerpartei in Venezuela deutsche Steuergelder zukommen.

Auf welche Weise sich bürgerliche Medien einer einseitigen und verzerrenden Berichterstattung über Venezuela befleißigen, illustriert ein Beitrag des Ökonomen Mark Weisbrot, der als Co-Autor am Drehbuch von Oliver Stones Film "South Of The Border" über Hugo Chávez mitgewirkt hat. Er hatte Gelegenheit, Zeuge eines Interviews zu werden, das der Journalist Stephen Sackur für die Zeitung "The Guardian" mit Präsident Chávez geführt hat. Wie Sackur in seinem am 14. Juni erschienenen Beitrag "A chat with Chávez - Oliver Stone's new lead tells all" schrieb, habe der venezolanische Staatschef den wiederholt von den USA erhobenen Vorwurf, Venezuela versorge den Iran mit Uran, kategorisch zurückgewiesen. Leider vergaß der Autor zu erwähnen, daß Chávez ihm in diesem Interview auch erklärt hatte, daß Venezuela überhaupt kein Uran produziert. [2]

Mit Andeutungen und gezielten Auslassungen arbeitete Sackur auch, als er ein Bild wirtschaftlichen Versagens der Regierung entwarf und schrieb, in den wuchernden Barrios an den Hügeln von Caracas seien Arbeitsplätze Mangelware. Unerwähnt blieb der Hinweis des Präsidenten, daß die Arbeitslosenrate von 15 Prozent im Jahr 1999 auf acht Prozent für 2009 gesunken ist. Der Journalist bekam von internationalen Organisationen wie der Weltbank oder der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika überprüfte und für zutreffend erklärte Statistiken zu sehen, die deutliche Verbesserungen der Lebensverhältnisse der meisten Venezolaner dokumentieren, ohne daß er sie angemessen in seinem Artikel gewürdigt hätte.

So ist die Armutsrate in den letzten zehn Jahren um über 44 Prozent gesunken, die Zahl der Allgemeinmediziner im öffentlichen Sektor um mehr als das Zehnfache gestiegen und eine kostenlose Gesundheitsversorgung für arme Leute geschaffen worden. Die Bildungsmöglichkeiten wurden auf allen Ebenen erheblich verbessert, die inflationsbereinigten Sozialausgaben mehr als verdreifacht und die sozialen Sicherungssysteme weithin ausgebaut. Und nicht zuletzt näherten sich die Einkommen stärker als irgendwo sonst in Lateinamerika an, so daß Venezuela 2008 die ausgeglichenste Einkommensverteilung der gesamten Region aufwies.

Vielleicht waren derartige soziale Errungenschaften, wie sie in manchen Aspekten selbst von den reichsten Industrieländern nicht gewährleistet werden, Sackur kaum der Erwähnung wert, weil er eine Leserschaft im Blick hatte, für die Armut ein Fremdwort und soziale Sicherheit ein selbstverständliches Privileg ist. Der gewaltigen sozialen Transformation Venezuelas widmet er einen einzigen Satz, den der Durchschnittsleser im Kontext der fast ausschließlich negativ konnotierten Stoßrichtung kaum wahrnehmen dürfte.

Wie viele andere Kritiker bedient sich Sackur einer maßlos übertriebenen Rhetorik, wenn er beispielsweise von einer Niederschlagung der Opposition spricht. Dabei gehören die venezolanischen Massenmedien zum allergrößten Teil dem Lager der Regierungsgegner an und gebärden sich so feindselig gegenüber den demokratisch gewählten Repräsentanten wie in kaum einem anderen Land der Hemisphäre. Inhaltlich begründete Argumente, die den tatsächlichen Verhältnissen gerecht werden, bleiben auf der Strecke, wenn das gängige Bezichtigungsmuster bedient wird, Hugo Chávez habe eine Art Diktatur errichtet und die Menschen ärmer gemacht. Desinformation hat Hochkonjunktur, wenn es gilt, Oliver Stones zugewandten Film abzustrafen oder mit Blick auf die Parlamentswahl am 26. September die Messer zu wetzen.

Wenn die Sitze in der venezolanischen Nationalversammlung neu vergeben werden, ist auch die Opposition mit von der Partie, die 2005 den Urnengang boykottiert und sich damit selbst ins Abseits manövriert hatte. Die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bildet zusammen mit der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) und der kleinen linkssozialdemokratischen Wahlbewegung des Volkes (MEP) sowie regionalen Gruppierungen ein Bündnis, das die Mehrheit der Linken im venezolanischen Parlament verteidigen will. Ihm gegenüber steht ein Block aus 21 in der rechten "Einheit Venezuela" zusammengeschlossenen Parteien, die eine Parlamentsmehrheit anstreben, um der Regierung künftig das Leben schwerzumachen. Bei den Regionalwahlen 2008 gelang es der Opposition, dem Regierungslager einige wichtige Provinzen abzujagen. [3]

Diesen Trend hofft man im Lager der restaurativen bis offen reaktionären Kräfte, die sich nach Jahren ihrer Stagnation und Spaltung zumindest zusammengerauft haben, verstärkt fortzusetzen. Die Opposition wittert Morgenluft und verstärkt ihr mediales Trommelfeuer gegen die Regierung. Bezichtigung hat einmal mehr Hochkonjunktur beim erneuten Versuch, das Rad der Geschichte in Venezuela zurückzudrehen und die alte Verwertungsordnung wieder in Kraft zu setzen.

Anmerkungen:

[1] Bis zu 50 Millionen US-Dollar für Chávez-Gegner (26.06.10)
http://www.amerika21.de/nachrichten/inhalt/2010/jun/fride-823920-finanz/

[2] Focusing Only on the Negative in Venezuela. Distorting Chavez (25.-27.06.10)
Counterpunch

[3] Opposition hofft (10.06.10)

junge Welt

1. Juli 2010