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LATEINAMERIKA/2424: Das "Wunder von San José" - Doch für wen? (SB)


33 Bergleute in Chile als Projektionsfläche eines nationalen Dramas


Das Schicksal der 33 Bergleute, die seit dem 5. August in knapp 700 Metern Tiefe in der kleinen Gold- und Kupfermine San José am Rand von Copiapó in der Atacamawüste, etwa 850 Kilometer nördlich der Hauptstadt Santiago, ausharren, hat Chile in den Bann geschlagen. Die chilenischen Medien verfolgen das Drama in jeder noch so kleinen Einzelheit: Das Fernsehen berichtet live, zeigte Ausschnitte des Gespräches der Eingeschlossenen mit dem Präsidenten, erachtet jedes Detail einer bedeutungsgeladenen Meldung wert. Heruntergebrochen auf die wundersame Rettung der totgeglaubten Kumpel, deren letztendliche Bergung erst in Monaten möglich sein wird, treten gesellschaftliche Verhältnisse, verheerende Arbeitsbedingungen unter Tage und politische Parforceritte instrumentalisierten Krisenmanagements wie unter einem Brennglas in außerordentlicher Schärfe hervor, um im nächsten Augenblick im Trommelfeuer euphorischer Phrasen, vereinnahmender Parolen und überbordender Gefühle bis zur Unkenntlichkeit zu verschwimmen. Wer sich am Ende glücklich schätzen darf, ist also keineswegs entschieden.

Nachdem ein Rettungsversuch nach dem andern gescheitert war, hatte man die Hoffnung nahezu aufgegeben, Überlebende zu finden. Zuerst brach ein Lüftungsschacht ein, über den man sich zu den Bergleuten vorarbeiten wollte, dann schien keine einzige der Sonden da anzukommen, wo man die Eingeschlossenen vermutete. Da deren Nahrungsvorräte nur für zwei oder drei Tage und keineswegs für eine so große Zahl von Personen berechnet waren, griff in der Berichterstattung der Tenor einer Tragödie um sich. [1]

Unterdessen harrten die 33 verschütteten Bergleute, die in einen Schutzraum geflüchtet waren, zwei Wochen lang in völliger Dunkelheit und Isolation aus, ohne zu wissen, ob die Außenwelt überhaupt noch an ihr Überleben glaubte. Mit einer strengen Ration von zwei Löffelchen Thunfisch und einem halben Glas Milch alle 48 Stunden versuchten sie, sich notdürftig bei Kräften zu halten. Als sich die Kamera ihren Weg in die Tiefe bahnte und plötzlich zu den Verschütteten vorstieß, kritzelten sie hastig mit roter Schrift auf einem Blatt Papier eine Botschaft für ihre verzweifelten Angehörigen und die Rettungskräfte: "Es geht uns gut in unserer Höhle - die 33". [2] Aufgeschrieben von dem 63jährigen Bergmann Mario Gómez, dessen Erfahrung maßgeblich zum Überleben der Gruppe beigetragen haben soll, ist diese Botschaft bereits auf zahllosen T-Shirts verewigt. [3]

Ein Freudenschrei, so heißt es, sei durch Chile gehallt, als am Sonntag über eines der Bohrlöcher ein erster Kontakt zu den Minenarbeitern zustande kam und sich herausstellte, daß alle am Leben und bei erstaunlich guter Gesundheit waren. Inzwischen werden über mindestens drei Bohrlöcher von jeweils acht Zentimetern Durchmesser Nahrungsmittel, Medikamente, Sauerstoff und Kommunikationsgeräte mit einer Sonde hinabgelassen. Mit dieser Kapsel müssen die Bergleute noch wochenlang versorgt werden, da es voraussichtlich bis Weihnachten dauern wird, bis man die Eingeschlossenen an die Oberfläche bringen kann.

Nun ist die größte Rettungsaktion nach einem Grubenunglück in der Geschichte des Landes angelaufen. Die staatliche Minengesellschaft Codelco hat ein 30 Tonnen schweres Bohrgerät zur Verfügung gestellt, mit dem ein Schacht von zunächst 38 Zentimeter Durchmesser in die Tiefe getrieben wird, der später auf 66 Zentimeter erweitert werden soll. Durch diese Öffnung sollen die Bergleute schließlich einzeln mit einem Seil an die Oberfläche geholt werden. Zunächst wird über Tage ein Betonsockel gegossen, in dem man die Bohrmaschine verankern will. Der Bohrkopf des Geräts kommt, je nach der Gesteinsschicht, die er durchstoßen muß, maximal acht bis 15 Meter pro Tag voran. Für die Erweiterung muß er in umgekehrter Richtung noch einmal die gesamte Strecke zurücklegen. Aus dieser Problemlage erklärt sich die beträchtliche Frist von mindestens hundert Tagen, die man derzeit für die Bergungsaktion veranschlagt. Um zu verhindern, daß der Schacht einbricht, werden Rohre zur Stabilisierung nachgezogen. Das Risiko einer Behinderung durch Wasserläufe wird hingegen als gering eingeschätzt, da sich das Bergwerk in einer Wüste befindet. [4]

"Wir hoffen, daß ganz Chile sich anstrengen wird, damit wir aus dieser Hölle herauskommen", beschwor Vorarbeiter Luis Urzua aus der Tiefe in einem Telefongespräch mit Staatspräsident Sebastián Piñera instinktiv die nationale Dimension der Rettung. Der Staatschef hatte die außerordentliche Bedeutung dieses Unglücksfalls für seine eigene Reputation längst begriffen und versicherte den Eingeschlossenen wie auch allen Landsleuten, man werde die 33 nicht allein lassen: "Das ist eine nationale Aufgabe." Er hatte sein Amt im März angetreten, als Chile soeben vom schwersten Erdbeben seit Jahrzehnten heimgesucht worden war. Wohl wissend, daß das Verhalten eines Staatsmanns im Angesicht der Katastrophe Legenden begründen oder Karrieren knicken kann, eilte er damals rastlos von Ort zu Ort. Den Eindruck erweckend, er mache sich auf diese Weise ein genaues Bild von den Verwüstungen und stehe den Betroffenen bei, attestierte man dem konservativen Präsidenten zunächst ein gelungenes Krisenmanagement.

Als dann aber der Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten Regionen nur schleppend vorankam, im Dauerstreit mit den rebellierenden Mapuche-Indianern keine Lösung in Sicht war und überdies ruchbar wurde, daß Piñera über einen Strohmann die Mehrheit am populärsten Fußballklub des Landes anstrebt, mußte ein innenpolitischer Freischlag in Gestalt einer erfolgreichen Rettungsaktion wie ein Geschenk des Himmels wirken. Als das Bergwerksunglück hereinbrach, erlaubte er sich keinen fatalen Fehler und reiste vorzeitig von den Feierlichkeiten zur Amtseinführung des neuen kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos in Bogotá ab, um sich den Familien der Bergleute in der Atacamawüste zu zeigen. Da man zunächst von einer raschen Rettung ausging, wollte Piñera vor Ort sein, um sich bestmöglich ins Bild zu setzen.

Der vorerst letzte Akt in diesem epochalen Drama hätte aus Sicht des Präsidenten nicht besser inszeniert sein können, obgleich diesmal eher die Fügung sein Geschick lenkte. Er befand sich gerade wieder auf dem Weg nach Copiapó, wo er sich angeblich über die Lage vor Ort informieren wollte, als er auf dem Flug erfuhr, daß erstmals Kontakt zu den Verschütteten hergestellt worden war. Da kaum noch jemand mit einer glücklichen Wendung gerechnet hatte, muß man wohl davon ausgehen, daß sich Piñera schon darauf vorbereitete, den Angehörigen eine traurige Nachricht zu übermitteln. Nun konnte er strahlend vor laufenden Kameras den Zettel vorzeigen, auf dem einer der Eingeschlossenen bestätigte, daß alle 33 Arbeiter noch am Leben waren.

Berücksichtigt man, daß Sebastián Piñera einer der reichsten Unternehmer des Landes ist und früher im Dunstkreis Pinochets gestanden hatte, ehe er mit sicherem Gespür für zukunftsträchtige Opportunität das sinkende Schiff der Diktatur verließ, mutet seine aktuelle Positionierung auf den ersten Blick recht erstaunlich an. So geißelte er mit ungewöhnlicher Schärfe all jene Personen, deren Verhalten die Bergwerkskatastrophe heraufbeschworen hatte, und drohte den Verantwortlichen zivil- und strafrechtliche Konsequenzen an. Zugleich kündigte er an, daß eine Kommission für Sicherheit am Arbeitsplatz Empfehlungen erarbeiten werde, um die Bedingungen in der chilenischen Arbeitswelt und vor allem im Bergwerkswesen zu verbessern. Die Kommission soll Gesetze und Normen für Sicherheit und Hygiene überprüfen wie auch sicherstellen, daß die Einhaltung der Vorschriften von den zuständigen Behörden auch tatsächlich überwacht wird.

In aller Deutlichkeit prangerte er die Gewinnsucht von Unternehmen an, die es vorzögen, Strafgelder zu bezahlen, statt die Sicherheitsvorschriften einzuhalten. Das war zweifelsfrei auf den Minenbetreiber Alejandro Bohn gemünzt, der die Unverfrorenheit besessen hatte, jede Verantwortung für das Unglück von sich zu weisen. Jetzt sei nicht der Augenblick für Anschuldigungen oder Entschuldigungen, hatte Bohn erklärt, und hinzugefügt, sein Unternehmen könne gelassen sein: Einen ähnlichen Vorfall habe es bislang nicht gegeben, die Arbeiter seien gut ausgebildet und verfügten über die nötigen Sicherheitseinrichtungen. Er sehe sich außerstande, Entschädigungen für die betroffenen Arbeiter zu zahlen oder auch nur die Gehaltszahlungen zu garantieren.

Nach diesen Äußerungen raste ein Sturm der Entrüstung durch sämtliche Medien, worauf Bergbauminister Laurence Golborne die Einlassungen Bohns als "unglaublich" zurückwies. Die Verantwortlichen würden nicht straflos ausgehen, und man werde insbesondere gründlich untersuchen, warum und unter welchen Umständen die wegen eines schweren Zwischenfalls geschlossene Mine 2007 wiedereröffnet wurde und warum kein Sicherheitsschacht mit Treppen eingebaut wurde. Wie inzwischen bekannt ist, hatten die verschütteten Bergleute in den ersten 48 Stunden versucht, über den Belüftungsschacht zu fliehen, dort aber nicht die Treppen vorgefunden, die zwingend vorgeschrieben sind, um im Notfall einen Ausstieg zu ermöglichen.

Die Kupfer- und Goldmine San José ist bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in Betrieb. Obgleich es 2007 schon einmal zu einem Unfall in der Mine gekommen war, wurde sie mit Genehmigung des Nationalen Bergbaudienstes wieder freigegeben. Nach Einschätzung der Krisenleitung vor Ort scheint sich der gesamte Minenkomplex in einem fragilen Zustand zu befinden. Der Einsturz habe zu einem "strukturellen Kollaps" des Bergwerks geführt. Daß die Mine nach der Bergung der eingeschlossenen Kumpel endgültig geschlossen wird, gilt als so gut wie sicher.

Vieles deutet darauf hin, daß nicht nur das chilenische Unternehmen San Esteban gegen zahlreiche Auflagen verstoßen hat, sondern auch gravierende Versäumnisse der zuständigen Behörden vorliegen. Ein Bericht über mangelnde Sicherheitsvorkehrungen und miserable Arbeitsbedingungen in dieser und anderen kleinen und mittelgroßen Minen wurde offenbar vom Nationalen Bergbaudienst und dem Arbeitsministerium schlichtweg ignoriert. Der Direktor des Bergbaudienstes ist in einer ersten Reaktion auf das jüngste Unglück entlassen worden.

Nun soll auch die Arbeitsgesetzgebung reformiert werden, die größtenteils noch aus der Zeit der Diktatur stammt und den Arbeitern kaum Schutz oder Sozialleistungen bietet. Die chilenische Kirche und die Gewerkschaften fordern verbesserte Arbeitsbedingungen unter Tage, was dringend notwendig und für die Bergleute lebenswichtig ist. Ein Großteil der chilenischen Bergwerke wurde nach einer Überprüfung der Sicherheitsstandards geschlossen, so daß derzeit angeblich nur noch 23 von ursprünglich 300 Minen in Betrieb sind.

Da neben landwirtschaftlichen Erzeugnissen Bodenschätze die chilenische Exportwirtschaft dominieren, gilt der Bergbau als das wichtigste volkswirtschaftliche Standbein des Landes. Nachdem die Preise für Edelmetalle Rekordhöhen erreicht hatten, wuchs der Druck seitens der Unternehmen, daß Äußerste aus den Minenarbeitern herauszupressen und die Profite zu maximieren. Ob die Bewältigung des Unglücks, welches das Land derzeit in Atem hält, tatsächlich die angemahnten Reformen im Bergbau zur Folge hat, muß skeptisch eingeschätzt werden. Anfang August ist eine geplante Steuererhöhung für die Bergbauunternehmen zur Finanzierung des Wiederaufbaus nach dem Erbeben am Druck der Bergbaulobby gescheitert, die über beträchtlichen Einfluß in der rechten Regierungskoalition verfügt.

Das "Wunder von San José", so steht zu befürchten, ist eher einschläfernder Balsam fürs Gemüt der von Katastrophen erschütterten und sozialen Verwerfungen drangsalierten Bevölkerung Chiles, als ein aufrüttelndes Fanal, mit dem wirtschaftspolitischen Vermächtnis der Diktatur zu brechen und dem Mythos vom Wohlstandsland eine Absage zu erteilen.

Anmerkungen:

[1] Chile. Nabelschnüre für die Wie-Neugeborenen (26.08.10)
http://www.faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~E557E7C7BCBB9456E8DA7FC9403D29E66~ATpl~Ecommon~Scontent.html

[2] Chile hofft auf Wunder für Bergleute (26.08.10)
http://nachrichten.rp-online.de/politik/chile-hofft-auf-wunder-fuer-bergleute-1.97986

[3] Grubenunglück in Chile. Ältester Kumpel übernimmt die Führungsrolle unter Tage (26.08.10)
http://www.abendblatt.de/vermischtes/article1611649/Aeltester-Kumpel-uebernimmt-die-Fuehrungsrolle-unter-Tage.html

[4] Grubenunglück in Chile. Wie gefährlich ist die Lage für die verschütteten Bergleute? (26.08.10)
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/wie-gefaehrlich-ist-die-lage-fuer-die-verschuetteten-bergleute/1911434.html

26. August 2010