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LATEINAMERIKA/2436: Ruhe und Ordnung des Hungerns und Sterbens in Haiti (SB)


Blauhelme schlagen Aufbegehren im Angesicht der Cholera nieder


Die Administration massenhaften Elends hat Millionen Haitianer zum Schweigen gebracht, die unter erbärmlichsten und unwürdigsten Verhältnissen um ihr Überleben kämpfen. Im Namen humanitärer Hilfe nach Erdbeben, Wirbelsturm und Choleraausbruch exerziert man ein Protektorat zur Verwaltung menschlicher Not, in dem die Versorgung auf niedrigstem Niveau und die militärische Absicherung gegen mögliche Revolten erprobt und perfektioniert werden. Als Feldversuch elitärer Herrschaftssicherung unter Ausgrenzung für nutzlos erachteter Mehrheiten bietet das zweihundert Jahre von kolonialen und imperialistischen Mächten drangsalierte wie auch von allen erdenklichen Naturkatastrophen heimgesuchte Land geradezu ideale Voraussetzungen für die praktische Umsetzung eines Regimes unterlassener Hilfeleistung bei größtmöglicher Zugriffsgewalt.

Erheben sich die Menschen in ihrer Verzweiflung, stehen Blauhelmsoldaten und Polizisten bereit, um die Ruhe und Ordnung des Hungerns und Sterbens wiederherzustellen. Bei den jüngsten Auseinandersetzungen wurden zwei junge Männer erschossen, der eine vor einem Stützpunkt der nepalesischen UN-Mission, der andere in Cap-Haitien. Die Demonstranten protestierten gegen das erbärmliche Krisenmanagement der Regierung, die mörderisch schleppende medizinische Versorgung und nicht zuletzt die Präsenz der UN-Soldaten, denen sie die Schuld am Ausbruch der Cholera geben.

In Cap-Haitien, das rund 270 Kilometer nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince liegt und die zweitgrößte Stadt des Landes ist, gingen mehrere tausend Menschen auf die Straße. Es flogen Steine, ein Polizeigebäude und mehrere Autos standen in Flammen, Barrikaden brannten. Die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschosse ein. Augenzeugen machten die dort stationierten nepalesischen UN-Soldaten für den Tod der beiden Männer verantwortlich. Die UN-Mission bestätigte, auf einen Demonstranten geschossen zu haben. Der Vorfall werde untersucht, doch gehe man davon aus, daß der Soldat in Notwehr gehandelt habe. Das 20jährige Opfer sei tot vor dem Stützpunkt der Blauhelmsoldaten gefunden worden, erklärte ein Behördenvertreter. Er sei von einer Kugel in den Rücken getroffen worden. [1]

Auch in der zentralhaitianischen Stadt Hinche kam es Radioberichten zufolge zu einer Protestkundgebung gegen die Vereinten Nationen. Dabei seien mindestens sechs nepalesische UN-Soldaten verletzt worden. Wie viele Demonstranten Verletzungen davontrugen, ist nicht bekannt. Eine weitere Demonstration in Gonaives verlief nach Polizeiangaben friedlich. Um die augenfällige Gründe des Aufbegehrens zu verschleiern und die eigene Handlungsweise der offiziellen Doktrin der UN-Mission anzugleichen, äußerte sich der Sprecher der UN-Mission, Vincenzo Pugliese, besorgt über die Lage in Cap-Haitien. Zugleich warf er örtlichen Politikern vor, die Unruhen geschürt zu haben. Die Art der Proteste lasse darauf schließen, daß diese in Zeiten des Wahlkampfs politisch motiviert seien, hieß es in der UN-Erklärung weiter. [2] Am 28. November werden in Haiti ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt.

Der Verdacht der haitianischen Bevölkerung, die Cholera sei von den nepalesischen Blauhelmsoldaten eingeschleppt worden, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit belegen, ist aber keinesfalls aus der Luft gegriffen. Die Soldaten trafen im Oktober in Haiti ein, nachdem es kurz zuvor in Nepal eine Choleraepidemie gegeben hatte. Eine Woche nach der Ankunft der UNO-Soldaten brach die Krankheit am 19. Oktober in Haiti aus und zwar am Fluß Artibonite in der Nähe ihres Lagers. Wie die UNO einräumen mußte, gebe es sanitäre Probleme in dem Stützpunkt. Die Soldaten seien aber nicht für die Epidemie verantwortlich, behaupteten Sprecher der UNO noch vor jeder weitergehenden Überprüfung. Eine unabhängige Untersuchung hat bis heute nicht stattgefunden.

Das US-Zentrum für Seuchenkontrolle und Vorbeugung untersuchte den Erreger. Dieser stimme mit einem Typ überein, der in Südasien vorkommt. Wie er nach Haiti gelangt sein könnte, sagte das Zentrum nicht. Die Weltgesundheitsorganisation zog sich mit der Ausflucht aus der Affäre, die Bekämpfung der Cholera habe für sie Vorrang vor der Untersuchung der Herkunft des Erregers. Die Kontrolle des Ausbruchs und die Hilfe für Erkrankte seien wichtiger, erklärte WHO-Sprecherin Fadela Chaib in Genf: "Irgendwann werden wir das weiter untersuchen, aber das hat jetzt keine Priorität."

Vor dem Ausbruch war die Cholera auf der Karibikinsel praktisch unbekannt, da seit Generationen keine Krankheitsfälle aufgetreten waren und die Seuche als ausgerottet galt. Demzufolge wurde die Krankheit aktuell eingeschleppt, wobei sich die Hinweise verdichten, daß die UN-Soldaten aus Nepal die Überträger waren. In jedem Fall war außerordentlich fragwürdig, Blauhelme aus einem Land, in dem die Cholera ausgebrochen ist, nach Haiti zu schicken, wo nach wie vor rund 1,5 Millionen Menschen unter notdürftigsten Verhältnissen in etwa 1.300 provisorischen Lagern leben, deren hygienischen Verhältnisse mangelhaft bis furchterregend sind. Zwangsläufig fühlt man sich an die von den europäischen Eroberern eingeschleppten Seuchen erinnert, denen in Amerika ganze Völker zum Opfer fielen.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Port-au-Prince sind bislang etwa tausend Menschen an der Cholera gestorben. Mehr als 14.600 werden demnach in Krankenhäusern behandelt. Experten der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" bezeichnen die offiziellen Angaben jedoch als untertrieben. Die Informationskampagne des Ministeriums komme zu spät, da der Versuch, die Epidemie von der Hauptstadt mit ihren mehr als tausend Obdachlosenlagern fernzuhalten, längst gescheitert sei. Auch nach Angaben der WHO hat die Cholera definitiv auf das weitgehend zerstörte Port-au-Prince übergegriffen. Dort sind alle Krankenhäuser überfüllt, und die Infektionsgeschwindigkeit hat sich erhöht. [3]

Mangel- und Unterernährung haben viele Menschen geschwächt, so daß sie der Krankheit nichts entgegenzusetzen haben. Vor allem aber fehlt es an den geringfügigen Voraussetzungen wie sauberes Wasser und Seife, um eine Infektion zu verhindern. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung leben am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze, wobei 60 Prozent sogar mit weniger als 70 Eurocent täglich ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Berücksichtigt man, daß sich der Preis eines Kanisters mit 16 Liter Trinkwasser in den vergangenen Wochen auf umgerechnet rund 4 Euro fast vervierfacht hat, liegt auf der Hand, daß die Cholera in Haiti auf lange Sicht grassieren wird. Sie gilt als typische Armutskrankheit, die unbehandelt in der Hälfte aller Fälle in kürzester Zeit zum Tod führt, während sie andererseits mit vergleichsweise einfachen und billigen Mitteln behandelt werden kann.

Überdies trug der Hurrikan zu einer Verschärfung der Lage bei, da die Flüsse über die Ufer traten und Elendsviertel wie auch Notunterkünfte überfluteten. Aus allen Landesteilen des Karibikstaates seien mittlerweile Cholerafälle gemeldet worden, teilte der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in Haiti, Nigel Fisher, in New York mit. Er warnte vor einer "gewichtigen Verschlimmerung" der Epidemie. "Laut den Epidemiologen werden wir die Zahl der Fälle deutlich steigen sehen." [4] Die Befürchtung der WHO, Hunderttausende könnten infiziert werden, ist ein durchaus realistisches Szenario.

Vor diesem Hintergrund mutet die Mahnung seitens der UN-Mission, die Haitianer sollten sich nicht manipulieren zu lassen und so die Demokratie gefährden, wie eine Kriegserklärung an. Die Vereinten Nationen haben im ärmsten Land Amerikas seit 2004 ein Kontingent, das derzeit 12.600 Blauhelmsoldaten und Polizisten umfaßt. Für die Stationierung dieser Truppe wurden bis 2009 rund 5 Milliarden Dollar aufgewendet. Damit kostete die sogenannte Friedensmission namens MINUSTAH, die angeblich das wirtschaftlich und politisch zerrüttete Land stabilisieren soll, real mehr als halb soviel wie die 9,9 Milliarden Dollar, die bei der Geberkonferenz im März fiktiv für den Wiederaufbau Haitis zugesagt wurden. Eingedenk dessen, daß von dieser Phantasiesumme bislang nicht mehr als zwei Prozent tatsächlich bei den Empfängern angekommen sein sollen, kann kein Zweifel daran bestehen, in welchem Mißverhältnis die Versorgung der Bevölkerung zu deren polizeilicher und militärischer Überwachung steht.

Anmerkungen:

[1] Tote bei Protesten in Haiti. UN-Soldaten erschießen Demonstranten (16.11.10)
http://www.sueddeutsche.de/panorama/tote-bei-protesten-in-haiti-un-soldaten-erschiessen-demonstranten-1.1024262

[2] Mindestens ein Toter bei Protesten wegen Cholera. WHO will sich auf Bekämpfung der Krankheit konzentrieren - Demonstranten machen nepalesische UNO-Soldaten für Epidemie verantwortlich (16.11.10)
http://derstandard.at/1289607996644/Mindestens-ein-Toter-bei-Protesten-wegen-Cholera

[3] Immer neue Hiobsbotschaften aus Haiti (16.11.10)
Neues Deutschland

16. November 2010