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LATEINAMERIKA/2438: Welche Wahl hat denn Haiti? (SB)


Inszenierung von Normalität im Kontext humanitärer Katastrophe


Die entscheidende Frage, unter welchen Umständen die Wahl eines neuen Präsidenten und die Bildung einer Regierung die Misere Haitis zu mildern geeignet sein könnte, bleibt weithin ungestellt. Der Verweis auf eine angebliche Rückkehr zur Normalität, die Notwendigkeit einer funktionsfähigen nationalen Führung oder die Legitimierung eines Ansprechpartners für die vom Ausland getragene Katastrophenhilfe bleibt in seinem stereotypen Rückgriff auf unüberprüfte Versatzstücke aus dem Arsenal fiktiver Staatenbildung ebenso vage wie verschleiernd. Ginge es allen Ernstes darum, das Elend der Haitianer nach besten Kräften zu lindern, würden die sogenannten Geber ihre pompösen Zusagen einhalten und die Besatzungstruppen mit einheimischen Kräften zusammenarbeiten, um die Präsenz ausländischer Soldaten schnellstmöglich überflüssig zu machen.

Haiti ist kein funktionsfähiger Staat mehr, seit Präsident Jean-Bertrand Aristide in einem von Washington orchestrierten Putsch ins Exil getrieben wurde. Seither steht der Westteil der Karibikinsel Hispañola unter Besatzung, die nach der Erdbebenkatastrophe in ein Protektorat überführt wurde, auch wenn nach offizieller Lesart ein Übergangszustand mit dem Ziel der Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse vorgehalten wird. Um diese Sichtweise zu befördern, drängte man auf die Abhaltung von Wahlen, obgleich die verheerenden Folgen des Erdbebens und der Cholera nicht einmal ansatzweise bewältigt sind. Wenn sich daher die Geister scheiden, ob der Urnengang regulär oder im Gegenteil außerordentlich fragwürdig verlaufen sei, rührt diese Diskrepanz in erster Linie von der Inszenierung eines rechtsstaatlichen Prozedere im Kontext himmelschreiender Verwerfungen menschlicher Existenzmöglichkeiten und deren administrativer Regulation her.

Schenkt man dem provisorischen Wahlrat Haitis Glauben, der die Präsidentschaftswahl in den meisten Wahlbezirken des Landes für gültig erklärt hat, ist der Urnengang "erfolgreich" verlaufen. In 96 Prozent der insgesamt 1500 Wahllokale sei die Wahl regulär vonstatten gegangen. [1] Dieser Auffassung schloß sich im Prinzip auch das Team von mehr als 100 internationalen Wahlbeobachtern der Organisation Amerikanischer Staaten und der Karibikgemeinschaft an. Dessen Chef Colin Granderson räumte diverse Unregelmäßigkeiten ein, die "in einigen Fällen ernst" gewesen seien, jedoch "den Wahlgang nicht zwangsläufig ungültig" machten. Vorwürfe massiven Betrugs, wie sie von zwölf der 18 Kandidaten in einer gemeinsamen Erklärung erhoben worden waren, wies Granderson als "voreilig und bedauerlich" zurück. Die Botschaft der Vereinigten Staaten, die 14 Millionen Dollar in die Wahl investiert hatte, gab eine etwas vorsichtigere Stellungnahme ab. Man wolle zunächst die Partner in der internationalen Gemeinschaft konsultieren, um die Einzelheiten dessen besser zu verstehen, was die Wahlbeobachter landesweit registriert hätten. [2]

Da die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von zahlreichen Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen begleitet waren, riefen die Vereinten Nationen und internationale Beobachter die Haitianer zur Ruhe auf. Wie die UNO drohte, werde eine Verschlechterung der Sicherheitslage dramatische Auswirkungen für die Opfer der Choleraepidemie haben, der bislang mehr als 1600 Menschen zum Opfer gefallen sind. [3]

Wie viele der 4,6 Millionen Stimmberechtigten sich an den Wahlen beteiligt haben, ist vorerst nicht bekannt. Dessen ungeachtet feierten die Anhänger der vom amtierenden Staatschef René Préval gegründeten Einheitspartei ihren Kandidaten Jude Celestín bereits als künftigen Staatspräsidenten. Bei dem 48jährigen Ingenieur handelt es sich um den Schwiegersohn Prévals, der trotz abgelaufener Amtszeit nur auf internationalen Druck bereit war, seinen Platz zu räumen. [4]

Hingegen hatte sich bereits wenige Stunden nach Öffnung der Wahllokale die Mehrzahl der Präsidentschaftskandidaten an die Öffentlichkeit gewandt und die Annullierung der Wahl gefordert. Man warf der Regierungspartei "Unregelmäßigkeiten und Betrug" vor und rief in einer gemeinsamen Erklärung die "Männer und Frauen Haitis zu friedlichen Protesten gegen die Regierung Préval" auf. Angeführt wurde die Fraktion der Kritiker von der 70jährigen rechtskonservativen Mirlande Manigat, die als aussichtsreichste Bewerberin galt. Hinzu kamen der Musiker "Sweet Michey" Michel Martelly, der ehemalige Ministerpräsident Jacques Edouard Alexis und der Unternehmer Charles Henry Baker, die sich gewisse Hoffnungen auf einen Wahlsieg machen, sowie weniger aussichtsreiche Kandidaten wie Jean Henry Ceant, Wilson Jeudy und Leslie Voltaire. Nach der Erklärung der zwölf Kandidaten kam es vielerorts zu Protestkundgebungen gegen die Wahlen und insbesondere Amtsinhaber René Préval und dessen Kandidaten Jude Celestín.

Bei Zusammenstößen zwischen Anhängern rivalisierender Kandidaten wurden nach Angaben der Polizei in Aquin im Süden des Landes zwei Menschen erschossen und in weiteren Orten mehrere Personen verletzt. In der Stadt Grande Riu Du Nord brandschatzten Jugendliche ein Abstimmungslokal. Aus Acul du Nord und Trou du Nord teilten die Bürgermeister mit, daß dort Menschen in die Luft geschossen und in Wahllokalen randaliert hätten. In Taberre nahe des internationalen Flughafens von Port-au-Prince verwüsteten etwa 30 Personen ein Wahllokal, weil ihre Namen nicht im Wählerverzeichnis standen. Die Urnen lagen zerstört auf dem Fußboden, so daß etwa 10.000 Menschen ihre Stimme nicht abgeben konnten.

In manchen Wahllokalen gab es kein Licht, worauf Helfer im Schein von Mobiltelefonen und Kerzen versuchten, die Wahlkabinen aufzubauen. Andernorts waren die Unterlagen über die Stimmberechtigten verschwunden, so daß sich Wählerinnen und Wähler vergeblich anstellten. Viele Wähler hatten entweder keinen Wahlschein erhalten, wußten nicht, wo sie ihre Stimme abgeben sollten, oder suchten ihre Namen vergeblich auf den Wahllisten. Einige Wahllokale wurden erst gar nicht eröffnet, andere zu spät und in manchen hatten sich Anhänger Celestíns am Vorabend verschanzt und bereits mit Stimmzetteln gefüllte Urnen hinterlassen. Wähler wurden eingeschüchtert, und auf den Wahllisten standen etliche Personen, die beim Erdbeben im Januar ums Leben gekommen waren. Im Armenviertel Cité Soleil von Port-au-Prince sollen Gruppen von zehn bis zwölf Personen von einem Wahllokal zum anderen gezogen sein, um Stimmzettel in die Urnen zu werfen.

Trotz dieser massiven Unregelmäßigkeiten und einer geringen Wahlbeteiligung von möglicherweise unter 20 Prozent scheinen die Befürworter des Urnengangs entschlossen, die Wahlen für weitgehend ordnungsgemäß und gültig zu erklären, um diese Farce zügig über die Bühne zu bringen. Der Wahlrat will in Kürze ein vorläufiges Wahlergebnis veröffentlichen, doch sollen die offiziellen Ergebnisse erst am 10. Dezember bekanntgegeben werden. Den Prognosen zufolge dürfte jedoch kein Bewerber die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen erhalten haben, so daß es vermutlich am 16. Januar zu einer Stichwahl kommen wird.

Anmerkungen:

[1] Kandidaten fordern Annullierung der Präsidentschaftswahl. Unregelmäßigkeiten bei Urnengang in Haiti - zwei Tote (29.11.10)
NZZ Online

[2] Severity of Problems in Haiti Vote Is Disputed (29.11.10)
New York Times

[3] UNO ruft zur Ruhe auf. Wahlen in Haiti von Gewalt überschattet. Zwölf der 19 Kandidaten fordern Annullierung (30.11.10)
junge Welt

[4] Dunkle Schatten über Haitis Wahl. Vorwürfe wegen "massiven Betrugs", Regierungsgegner rufen zu "friedlichem Protest" auf (30.11.10)
Neues Deutschland

30. November 2010