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LATEINAMERIKA/2444: Mythos Tanja Nijmeijer - US-Justiz erhebt Anklage (SB)


18 FARC-Rebellen wegen "Terrorverdachts" gesucht


Die 1964 gegründete Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) ist die größte Rebellenorganisation des südamerikanischen Landes. Da die Zahl ihrer Kämpfer zwangsläufig lediglich das Resultat zumeist interessengebundener Schätzungen sein kann, weisen diesbezügliche Angaben nicht selten beträchtliche Differenzen auf. Der Regierung in Bogotá zufolge gehören ihr gegenwärtig rund 7.000 Kämpfer an, während regierungsunabhängige Organisationen eher von 10.000 ausgehen.

Vor wenigen Tagen hat die US-Justiz Anklage wegen "Terrorverdachts" gegen 18 FARC-Rebellen erhoben, denen Geiselnahme, Verschwörung und Waffenbesitz zur Last gelegt wird. Sollten die Angeklagten gefaßt werden, drohen ihnen bis zu 60 Jahre Haft. Das ist die Höchststrafe, die nach kolumbianischem Recht gegen Staatsbürger verhängt werden darf, die ausgeliefert werden und sich wegen Straftaten im Ausland verantworten müssen. Die vier Angeklagten Carlos Alberto Garcia, Juan Carlos Reina Chica, Jaime Cortes Mejia und Carlos Arturo Cespedes Tovar müssen sich zudem wegen Mordes verantworten.

Die Beschuldigten sollen 2003 an der Verschleppung dreier US-Bürger im kolumbianischen Dschungel beteiligt gewesen sein, nachdem diese dort mit einem Flugzeug verunglückt waren. Der US-Pilot und ein kolumbianischer Insasse der Maschine wurden nach Angaben des US-Justizministeriums sofort getötet, die anderen Geiseln unter brutalen Bedingungen mehr als fünf Jahre im Dschungel gefangengehalten. Die drei US-Geiseln wurden im Juli 2008 zusammen mit der früheren Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt sowie weiteren Geiseln in einer abenteuerlichen Rettungsaktion von kolumbianischen Sicherheitskräften aus den Händen der FARC befreit. [1]

Die US-Regierung hat eine Belohnung von bis zu 5 Millionen Dollar für Informationen ausgesetzt, die zur Festnahme oder Verurteilung von Kommandeuren der FARC führen, die an der Geiselnahme oder der Tötung des Piloten beteiligt waren. Wie der zuständige Staatsanwalt des District of Columbia, Ronald Machen, in einer Presseerklärung unterstrich, sei die Anklageerhebung Ausdruck der festen Entschlossenheit, auch den letzten Kommandeur der Guerilla vor Gericht zu bringen, der irgendeine Rolle bei diesem "brutalen Akt von Terrorismus" gespielt habe. [2]

Die vier US-Amerikaner und der kolumbianische Offizier wurden von der FARC gefangengenommen, als ihr Flugzeug während eines Überwachungsflugs abstürzte. Offiziellen Angaben zufolge handelte es sich um eine Routinetätigkeit im Rahmen der Bekämpfung des Kokaanbaus und Drogenhandels. Ein Motorschaden der Cessna habe zur Notlandung im Bergland geführt, das von der Guerilla kontrolliert wurde. Alle fünf Insassen der Maschine hätten die Landung überlebt, doch seien der Pilot Thomas Janis und der kolumbianische Feldwebel Luis Alcides Cruz von den Rebellen unmittelbar nach deren Eintreffen am Ort des Absturzes getötet worden.

Die drei US-Amerikaner Marc Gonsalves, Keith Stansell und Thomas Howes, die bei einem privaten Sicherheitsdienstleister beschäftigt waren, wurden gefangengenommen und unter "barbarischen" Bedingungen im Dschungel als Geiseln festgehalten. Wie es in der Klageschrift heißt, hätten die Wächter ihre Gefangenen mit Ketten, Drähten, Vorhängeschlössern und Würgegeschirren an Hals und Handgelenken gebunden. In einem Fall seien die Gefangenen gezwungen worden, vierzig Tage lang mit schwerem Gepäck durch den Urwald zur marschieren, als die Rebellen die anrückenden kolumbianischen Streitkräfte ausmanövrierten. Auch habe man die Geiseln mitunter über die Grenze nach Venezuela gebracht, um sie Befreiungsversuchen seitens der kolumbianischen Behörden zu entziehen.

Diese Version wirft zwangsläufig eine Reihe von Fragen auf, die Grund zur Annahme geben, daß es sich in erheblichen Teilen um ein Propagandakonstrukt handelt, das maßgebliche Umstände ausblendet. Im Zuge des sogenannten Antidrogenkampfs führen Mitarbeiter US-amerikanischer Dienstleister Flüge in Kolumbien durch, um Anbauflächen von Kokasträuchern mit giftigen Herbiziden zu besprühen und Bewegungen am Boden zu beobachten. Von völkerrechtlichen Widersprüchen dieser Einsätze ganz abgesehen handelt es sich im ersten Fall um eine Form der chemischen Kriegsführung, da Menschen, Tiere, Nutzpflanzen, Böden und Gewässer verseucht werden. Was die Aufklärung betrifft, spricht die Guerilla von Spionageflügen, die entweder direkt dem Aufspüren ihrer Lager und Bewegungen im Dschungel geschuldet sind oder diesbezügliche Beobachtungen mit den Sicherheitskräften teilen.

Auch die Verdammung der "barbarischen" Bedingungen der Gefangenschaft löst Skepsis aus. So beschwerlich bis unerträglich der erzwungene Aufenthalt in Dschungellagern und die Gewaltmärsche auch gewesen sein mögen, spiegeln sie doch in erheblichen Teilen die alltäglichen Probleme der Rebellen wider, die unreflektiert und pauschalisierend zu einer besonderen Grausamkeit den Gefangenen gegenüber erklärt werden. Selbst die Angriffe der kolumbianischen Streitkräfte, die ohne Rücksicht auf das Leben der Geiseln geführt wurden und des öfteren in blutigen Befreiungsversuchen endeten, finden keine angemessene Erwähnung, wenn man den Rebellen zur Last legt, sie hätten die drei gefangenen US-Amerikaner zwangsweise durch den Urwald marschieren lassen.

Prominenteste Angeklagte aus europäischer und US-amerikanischer Sicht ist die aus den Niederlanden stammende 32jährige Tanja Nijmeijer. Die frühere Lehrerin war 2002 nach Kolumbien ausgewandert und soll inzwischen in die Führungsriege der FARC aufgestiegen sein. Angeblich war sie die Assistentin des im September getöteten FARC-Kommandanten Jorge Briceño. Nach Angaben der kolumbianischen Behörden ist Nijmeijer, die früher unter dem Decknamen "Alexandra" agierte und später offenbar den Kampfnamen "Eillen" annahm, die einzige Europäerin in den Reihen der linksgerichteten Rebellenorganisation. Dieser ungewöhnliche Umstand erklärt das in wesentlichen Teilen voyeuristische und propagandistische Interesse von Politik und Medien an der Ausschlachtung ihrer Aktivitäten oder besser gesagt dessen, was darüber - aus welchen Quellen auch immer stammend - lanciert wird.

International bekannt wurde sie, nachdem 2007 bei einem Angriff der kolumbianischen Streitkräfte auf ein Lager der Rebellen ihre Tagebücher gefunden wurden. Grundsätzlich muß man davon ausgehen, daß jeder derartige Fund tatsächlich echt, doch ebenso gut vollständig fabriziert sein kann, da eine qualifizierte Überprüfung von unabhängiger Seite so gut wie nie möglich ist. Angenommen, es habe sich wirklich um Tagebücher Tanja Nijmeijers gehandelt, bleibt zudem unklar, welche Passagen unerwähnt geblieben sind. Schlagzeilenträchtig kolportiert wurden vor allem Klagen über das langweilige Leben im Dschungel, sexuelle Eskapaden der Guerilleros und die Borniertheit ihrer Kommandanten. In welchem Umfang diese negativen Aussagen über ihre Situation von positiven ausgewogen oder gar in den Schatten gestellt werden, bleibt offen.

Grundsätzlich gilt zudem, daß man einem persönlichen Tagebuch Ärger, Enttäuschung, Zweifel und Wünsche anvertraut, die man womöglich auch wegen ihres situativen und stimmungsabhängigen Charakters nicht generell geltend mache würde. Ein Tagebuch wird nicht zuletzt in der Überzeugung geführt, daß es absolut privater Natur sei und von Außenstehenden nicht gelesen werden darf. Daraus zu zitieren und das überdies mit der eigentlichen Haltung Tanja Nijmeijers zur FARC gleichzusetzen, verbietet sich daher von selbst.

Um so begieriger stürzten sich die Medien in Europa und den USA auf diese Brocken, die ihnen vom kolumbianischen Geheimdienst hingeworfen wurden. So rechnete man damit, daß Nijmeijer von der Guerilla hart für ihre Tagebucheinträge bestraft würde, und konnte sich nicht erklären, daß sie Dokumenten zufolge, die 2009 vom kolumbianischen Militär gefunden wurden, offenbar zur rechten Hand von Víctor Suárez alias Mono Jojoy aufgestiegen war, der als Nummer zwei in der Hierarchie der FARC galt. Vermutlich war Tanja Nijmeijer auch während jener Kommandoaktion der Armee in der Nacht vom 22. zum 23. September 2010 an seiner Seite, bei der Mono Jojoy getötet wurde. Zunächst blieb unklar, ob sie sich unter den rund 20 dabei getöteten Rebellen befand. Am 10. Oktober 2010 bestätigte das Außenministerium der Niederlande, daß nach Identifizierung aller Opfer feststehe, daß sich Nijmeijer nicht darunter befand.

Tanja Nijmeijer wuchs in der Ortschaft Denekamp im Norden der Niederlande auf und wurde während ihres Spanisch-Studiums an der Universität Groningen politisch aktiv. Sie gehörte zeitweise der dortigen Hausbesetzerszene an und wanderte vor acht Jahren nach Kolumbien aus, um sich dort zu engagieren. In Pereira unterrichtete sie Sprachen, worauf sie sich 2002 der Stadtguerilla Antonio Nariño in Bogotá anschloß, bei der sie im Umgang mit Sprengstoffen ausgebildet wurde. In dieser Zeit nahm sie den Kampfnamen "Alexandra" an. Im folgenden Jahr wechselte sie zur FARC über und ging in den Dschungel. [3]

Im Jahr 2007 sorgte dann der bereits erwähnte Fund ihrer Tagebücher für Schlagzeilen, dem weitere angeblich in Rebellenlagern konfiszierte Dokumente folgen sollten, die Stück für Stück den mutmaßlichen Aufstieg in den Reihen der Rebellen beleuchteten. Ihre Geschichte - ob in wesentlichen Teilen vom Geheimdienst konstruiert oder der Faktenlage entsprechend - machte sie zu einer faszinierenden Figur im Kontext der ansonsten von Geheimhaltung geprägter Unkenntnis über die Guerilla. Man schrieb ein Buch über sie, und das niederländische Fernsehen strahlte im Mai 2010 eine Dokumentation des Filmemachers Leo de Boer aus, in der die niederländische Menschenrechtsaktivistin Liduine Zumpolle und Tanja Nijmeijers Mutter in Kolumbien auf einem Radiokanal, den die Rebellen empfangen, Anweisungen für eine Fluchtroute senden.

Daß Tanja Nijmeijer, sofern sie noch am Leben ist, mit der Guerilla abgeschlossen hat und im Dschungel längst auf Fluchtmöglichkeiten sinnt, ist für die Außenstehenden ausgemachte Sache. Etwas anderes kommt für sie offenbar nicht in Frage.

Anmerkungen:

[1] USA klagen niederländische FARC-Kämpferin an (15.12.10)
http://derstandard.at/1291455212733/USA-klagen-niederlaendische-FARC-Kaempferin-an

[2] FARC rebels indicted in US court on charges of hostage-taking, murder (14.12.10)
The Christian Science Monitor

[3] The Saturday Profile. Dutch Guerrilla in Colombia Leaves Puzzling Trail (28.05.10)
New York Times

17. Dezember 2010