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LATEINAMERIKA/2454: Michel Martelly - Präsident aller Haitianer? (SB)


Künftige Gallionsfigur der Protektoratsverwaltung


Es gibt so vieles, dessen die Haitianer dringend bedürfen, doch daß ihr künftiger Präsident Michel Joseph Martelly dazu gehört, darf bezweifelt werden. Angesichts einer Wahlfarce, bei der mit der Fanmi Lavalas eben jene Partei ausgeschlossen wurde, die am ehesten die Interessen der verelendeten Bevölkerungsmehrheit vertritt, kann von einem akzeptablen Mandat des neuen Staatschefs nicht die Rede sein. Hinzu kommt eine geringe Wahlbeteiligung in der Stichwahl, die Schätzungen der Organisation Amerikanischer Staaten und der Karibikgemeinschaft zufolge mit nur 30 Prozent deutlich unter den entsprechenden Werten bei früheren Präsidentschaftswahlen lag. [1] Vor allem aber läßt Martelly eine Agenda vermissen, die Ansätze einer glaubwürdigen Parteinahme für die Menschen im Hungerstaat Haiti, geschweige denn gegen das Protektoratsregime ausländischer Mächte und Kräfte aufwiese.

Sofern man Martelly überhaupt eine politische Positionierung zugestehen will, zeichnete sich diese in der Vergangenheit durch seine Nähe zu rechtsgerichteten Fraktionen und Sympathien für die Diktatur der Duvaliers aus. Er hat noch nicht offengelegt, aus welchen Quellen die Millionen von Dollars stammen, mit denen er seinen Wahlkampf finanziert hat. Wie man aber weiß, wurde seine Kampagne von Beratern gesteuert, die unter anderem für Senator John McCain aus Arizona und den mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón gearbeitet haben.

Beim Urnengang profitierte Martelly vor allem von seiner Popularität bei der Jugend, welche die satirischen Einlagen des Karnevalssängers schätzte, mit denen er sich als Bad Boy der beliebten Kompa-Musik in Szene setzte und dabei auch die bisherige Regierung aufs Korn nahm. Daß dieses unbestrittene Unterhaltungstalent "Sweet Mickys" ausgereicht hat, um mit großem Vorsprung das Präsidentenamt zu erringen, läßt Schlimmstes für die künftige Entwicklung des Landes befürchten.

Der auch als "Ted Kale" (Kahlkopf) bekannte Sänger, der für die Partei Repons Peyizan (Bauernantwort) ins Rennen gegangen war, wurde am 12. Februar 1961 in der Hauptstadt Port-au-Prince geboren. Der erste Wahlgang am 7. Dezember stand im Zeichen dreitägiger Unruhen und schwerer Betrugsvorwürfe. Die Provisorische Wahlkommission (CEP) hatte zunächst den Kandidaten des Regierungslagers, Jude Celestin, und die frühere Senatorin Mirlande Manigat zu Gewinnern erklärt. Da dieses fragwürdige Ergebnis jedoch in der Bevölkerung augenscheinlich nicht durchsetzbar war, verzichtete Celestin auf massiven Druck der OAS auf seine Teilnahme an der Stichwahl, so daß der Drittplazierte Martelly nachrückte. [2]

Gemäß dem vorläufigen Ergebnis der Stichwahl am 20. März, das erst am 16. April endgültig bestätigt werden soll, konnte der 50jährige Musiker 67,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Für die ehemalige First Lady Mirlande Manigat hatten demnach lediglich 31,7 Prozent der Wähler votiert. Das Ergebnis sollte ursprünglich bereits in der vergangenen Woche verkündet werden, doch verschob die Wahlkommission den Zeitpunkt, da ihren Angaben zufolge bei der Auswertung der Stimmen ein "hoher Grad an Betrug und Unregelmäßigkeiten diverser Art" festgestellt wurde. Angesichts des deutlichen Vorsprungs Martellys gilt jedoch als sicher, daß er wie vorgesehen am 14. Mai das höchste Staatsamt übernehmen wird. Sein Vorgänger René Préval durfte nach zwei Amtszeiten nicht mehr zur Wahl antreten. [3]

Wie jeder designierte Präsident versprach Michel Martelly seinen Landsleuten ebenso plakativ wie nichtssagend eine "neue und moderne Politik". Er wolle die Autorität des Staates wiederherstellen, der Korruption und dem Versagen der Behörden den Kampf ansagen, ausländische Investitionen fördern und die Abhängigkeit des ärmsten Staates des amerikanischen Kontinents von ausländischen Hilfsorganisationen verringern. Die sogenannte internationale Gemeinschaft hat Haiti fiktive zehn Milliarden Dollar in Aussicht gestellt, wovon bislang jedoch nur ein geringer Bruchteil tatsächlich eingetroffen ist. Beim verheerenden Erdbeben vom Januar 2010 starben mehr als 225.000 Menschen, der anhaltenden Choleraepidemie sind bislang fast 5.000 Menschen zum Opfer gefallen. Hunderttausende leben noch immer in provisorischen Zeltstädten, und das Land ist nach wie vor schwer verwüstet. Angesichts dieser extremen Notlage kann man das Täuschungsmanöver der Geberländer wohl nur als gezielte Strategie interpretieren, Haiti eine permanente Hungerverwaltung aufzuzwingen. Gegen diese Übermacht zu Felde zu ziehen, bedürfte es einer streitbaren Präsidentschaft, von der Martelly nicht einmal Anflüge erkennen läßt.

Er sei der Präsident aller Haitianer und gemeinsam werde man für die Veränderung kämpfen, behauptete er auf der ersten Pressekonferenz nach Bekanntgabe des vorläufigen Wahlergebnisses. Dabei las er vom Blatt ab und bediente sich fast durchweg des Französischen, der Sprache der haitianischen Elite. Bei Treffen mit ausländischen Diplomaten, die dem politisch bislang nicht in Erscheinung getretenen Aufsteiger auf den Zahn fühlen wollten, zerstreute er Befürchtungen mit der Ankündigung, er werde sich mit anerkannten Experten umgeben. Martelly habe "zahlreiche gute Technokraten" um sich versammelt, was Anlaß zur Hoffnung gebe, befand der Vertreter einer großen NGO.

Karl Jean Louis, ein leitender Mitarbeiter der Organisation Haiti Aid Watchdog, die die Arbeit der NGOs im Land überprüft, war eigenen Angaben zufolge von Martellys Interesse an der Verteilung von Hilfsgütern so beeindruckt, daß er sich dessen Wahlkampf als Berater anschloß. Diesem Politiker sei es ernst damit, die Menschen im Land zu mobilisieren, die am Wiederaufbau beteiligt werden müßten.

Auch der Vorsitzende der Handelskammer, Reginald Boulos, scheint von Martelly angetan zu sein. Zwar hätten viele führende Geschäftsleute zunächst an der Kompetenz dieses Kandidaten gezweifelt, doch habe sie sein professionell geführter Wahlkampf zunehmend umgestimmt. Man habe einen Priester gewählt, doch der habe keinen Wohlstand gebracht, bilanzierte Boulos unter Verweis auf Jean-Bertrand Aristide, den ersten und letzten demokratisch gewählten Präsidenten Haitis. Man habe einen Politiker nach dem andern erlebt, doch keiner von ihnen habe für Prosperität gesorgt. Wenn sich die Haitianer für Martelly entschieden hätten, woran kein Zweifel bestehe, könne man nur hoffen, daß das haitianische Volk nicht enttäuscht werde.

Ein neuer Staatschef Haitis, der die Wahl mit Hilfe konservativer US-amerikanischer Berater gewinnt, sich mit Technokraten umgibt und dafür von Diplomaten und NGOs gelobt wird, der nicht zuletzt in einheimischen Wirtschaftskreisen Hoffnungen auf profitable Geschäfte weckt, dürfte kaum willens und in der Lage sein, wie angekündigt als Präsident aller Haitianer zu amtieren.

Anmerkungen:

[1] New Haitian Leader Pledges Reconciliation (05.04.11)
New York Times

[2] Haiti: Michel Martelly zum Wahlsieger erklärt (06.04.11)
junge Welt

[3] Martelly gewinnt Präsidentschaftswahl in Haiti (05.04.11)
NZZ Online

6. April 2011