Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2469: Massenbewegung gegen die soziale Misere Chiles (SB)


Hunderttausende gehen mit den Studenten auf die Straße


Das als lateinamerikanische Version des Wirtschaftswunders von seinen konservativen Protagonisten jahrzehntelang hochgehaltene chilenische Modell gründet auf einer exzessiven Akkumulation von Reichtum der Eliten zu Lasten wachsender Teile der Bevölkerung, deren Verelendung die Substanz des ökonomischen Wachstums abgepreßt wird. Die Konzentration von Macht und Pfründen in Händen weniger hat zu einer ausgeprägten Spaltung der Gesellschaft in eine profitierende Minderheit von einflußreichen Familien, Großunternehmen, Banken sowie dem Großbürgertum auf der einen und einer abgehängten Mittelschicht sowie einem wachsenden Anteil in Armut lebender Menschen auf der anderen Seite geführt. Während heute auf die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung mehr als 40 Prozent aller Ausgaben der Privathaushalte entfallen, stehen für die ärmsten zehn Prozent der Chilenen lediglich zwei Prozent zu Buche. Mittel- und Unterschicht bleibt nur die Wahl zwischen Konsumverzicht und Verschuldung, was in der Konsequenz auf dasselbe hinausläuft.

In den Jahren der Militärdiktatur wurde der Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung systematisch gesenkt. Das Pinochet-Regime reduzierte die Steuern auf hohe Einkommen und Unternehmensgewinne, schaffte den Mindestlohn ab, schränkte die Rechte der Gewerkschaften ein und privatisierte Staatsbetriebe, Bankwesen, Altersversorgung und Bildungssystem. Wo sich Widerstand gegen die neoliberale Verwertungsoffensive regte, wurde er mit massiver Repression unterdrückt. Gegen den Fortbestand dieser Strukturen richtet sich der Protest von Schülern und Studenten, die seit Monaten gegen die Misere des Bildungssystems zu Felde ziehen. Die rebellierende Jugend läßt sich nicht mit halbherzigen Reformen abspeisen und zielt im Zuge wachsender Politisierung des Protests auf den Kern der gesellschaftlichen Widersprüche ab.

Im Schulterschluß mit anderen gesellschaftlichen Sektoren richtet sich das Aufbegehren nicht nur gegen das Bildungssystem, sondern auch die niedrigen Löhne, die ausgedünnten Sozialleistungen, die Energiepolitik und andere Frontverläufe der sozialen Verwerfungen. Gefordert werden Verfassungs- und Gesetzesreformen, ein neues Arbeitsrecht, die Rückführung der privatisierten Rentenversicherung in öffentliches Eigentum und mehr staatliche Investitionen in die Gesundheitsversorgung und die Bildung. Die politische Führung Chiles und die Wirtschaftseliten müssen ein Übergreifen der Protestbewegung fürchten, das die Ausgrenzung der Schüler und Studenten verhindert und Spaltungsversuchen den Boden entzieht.

Auch nach sechs Monaten hat das Aufbegehren nichts von seiner Dynamik eingebüßt. Die Forderungen der Jugendlichen finden in der Bevölkerung zahlreiche Befürworter. Nachdem Schüler, Studenten, Professoren, Gewerkschaften und Umweltschützer zu einem erneuten Generalstreik aufgerufen hatten, gingen am Mittwoch im ganzen Land mehr als 300.000 Menschen auf die Straße, allein 200.000 Demonstranten marschierten durch die Hauptstadt Santiago. In einer jüngst durchgeführten Umfrage, an der sich über eine Million Chilenen beteiligten, sprachen sich knapp 90 Prozent der Teilnehmer für ein gebührenfreies Bildungssystem aus und unterstützten damit die Kernforderung der Studenten. In Chile wird lediglich ein Viertel der Kosten für das Bildungswesen vom Staat finanziert, drei Viertel müssen die Schüler und Studenten aufbringen. Zwangsläufige Folge ist eine horrende Verschuldung zahlloser Familien, die ärmere Bevölkerungsschichten in besonderem Maße belastet. "Pinochets Erziehung wird fallen", skandieren daher nicht nur jugendliche Demonstranten, sondern gestandene Bürger aller Altersschichten, die den Bildungsstreik in wachsender Zahl auch auf der Straße gutheißen. Gebührenfreie Schulen und Universitäten, besserer Unterricht und die Abschaffung profitorientierter Bildungseinrichtungen sind inzwischen mehrheitsfähige Forderungen der chilenischen Gesellschaft. [1]

Vor zwei Wochen hatte die Unnachgiebigkeit der Regierung zum Abbruch der Verhandlungen mit Studenten, Schülern und Professoren geführt. Präsident Sebastián Piñera blieb bei seinem Vorschlag, lediglich den ärmsten vierzig Prozent der Bevölkerung ein kostenloses Studium zu ermöglichen. Regierungssprecher Andrés Chadwick sprach von einem "riesigen Schritt", dem keine weiteren Zugeständnisse folgen würden. Da diese harte Haltung den Protest nicht eindämmte, sondern im Gegenteil befeuerte, wandten sich sogar Politiker aus dem Regierungslager öffentlich gegen den Kurs des Präsidenten. Dessen Angebot sei unzureichend, kritisierte zuletzt Senator Hernán Larraín vom Koalitionspartner Unabhängige Demokratische Union (UDI). Gemeinsam mit weiteren Politikern der Regierungsparteien fordert er Vollstipendien für mindestens 60 Prozent der Studenten. Zuletzt signalisierten Vertreter der konservativen Koalition, es werde möglicherweise doch mehr Stipendien für ärmere Studenten geben. Piñera traf mit regierungstreuen Parlamentariern zusammen, um den Haushaltsentwurf 2012 zu beraten. Dabei sprach sich Senator Francisco Chahuán für mehr Stipendien aus, um 60 Prozent der einkommensschwächeren Studenten zu unterstützen. [2]

Während sich die Regierung zähneknirschend zu Kompromißangeboten drängen läßt, die weit hinter den erhobenen Forderungen zurückbleiben, bringt sie ihre repressiven Werkzeuge in Stellung. Seit Beginn des Protests der Schüler und Studenten am 13. Mai wurden immer wieder Zwangsmittel eingesetzt. Dennoch wuchsen die Demonstrationszüge an, so daß am 30. Juni landesweit mindestens 120.000 Menschen auf die Straße gingen. Am 4. August wurden 874 Schüler verhaftet, als paramilitärische Polizisten ihre Demonstration auflösten. Fünf Tage später demonstrierten Zehntausende in Santiago, gegen die Polizeikräfte mit Wasserwerfern, Tränengas und Massenverhaftungen vorgingen. Als Ende August der Gewerkschaftsverband CUT sowie über 80 weitere Organisationen zu einem zweitägigen Generalstreik aufriefen, sahen sich die Organisatoren bereits im Vorfeld heftiger Angriffe ausgesetzt. Die Parteiführung der rechtsgerichteten UDI behauptete, der Protest werde nur von einer Minderheit unterstützt und sei der Entwicklung des Landes abträglich. Wirtschaftsminister Pablo Longueira verurteilte den Streik als "unnütz und unnötig", er richte nur Schaden an. Die Regierung bezeichnete Streiktage als Gefahr für die öffentliche Ordnung, und die zuständigen Behörden verboten die angemeldete Route des Demonstrationszugs in Santiago.

Dennoch beteiligten sich nach Gewerkschaftsangaben landesweit in mehr als 50 Städten insgesamt 600.000 Menschen an den Aktionen, wobei allein in der Hauptstadt am zweiten Streiktag 300.000 Demonstranten auf die Straße gingen. Dabei wurde im Stadtteil Macul der 16 Jahre alte Manuel Gutiérrez Reinoso von einem Angehörigen der Sondereinsatzkommandos paramilitärischer Carabineros durch einen Schuß in die Brust getötet. Es wurden geheime Waffenlieferungen an die Armee bekannt, und in der Hafenstadt Valparaíso legten Polizisten mit scharfer Munition auf demonstrierende Studenten an. Der rechtsgerichtete Bürgermeister der Hauptstadt drohte in aller Offenheit mit einem Einsatz der Armee gegen Demonstranten. Zur Aufstandsbekämpfung gerüstete Polizisten gingen mit Wasserwerfern, Tränengas, Schlagstöcken und scharfer Munition gegen Kundgebungen vor, wobei damals zahlreiche Menschen verletzt und bis zu 1.400 festgenommen wurden.

Im Verlauf der aktuellen Streiktage kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Demonstranten, die einander Straßenschlachten lieferten. An zehn Orten der Hauptstadt wurden brennende Straßensperren errichtet und Sicherheitskräfte mit Molotow-Cocktails beworfen, die ihrerseits Tränengas und Wasserwerfer einsetzten, um die Demonstranten auseinanderzutreiben. Am Dienstag wurden landesweit mindestens 300 Menschen festgenommen und auch am Mittwoch kam es zu Dutzenden Festnahmen. Ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP wurde am Dienstag vorübergehend festgenommen, als er auf einem Universitätsgelände im Zentrum der Hauptstadt Aufnahmen von der Festnahme mehrerer Jugendlicher machte. Er sei brutal in ein Polizeifahrzeug gedrängt und mehrmals geschlagen worden, berichtete Héctor Retamal nach seiner Freilassung, die drei Stunden nach der Festnahme erfolgte. Chilenische Medien haben in den vergangenen Wochen mehrere Fälle festgenommener Fotografen und Kameramänner angeprangert. [3]

Wie schon in der Vergangenheit haben Studenten erneut in einer spektakulären Aktion das Parlamentsgebäude gestürmt, wobei sie diesmal eine Sitzung des Senats unterbrachen. Vor laufenden Fernsehkameras drangen etwa 60 Demonstranten in den Saal ein, als Ausschußmitglieder gerade über den Bildungsetat für das kommende Jahr berieten. Einige der Eindringlinge kletterten auf Tische, entfalteten Spruchbänder und forderten ein nationales Referendum über eine Bildungsreform. Der chilenische Bildungsminister Felipe Bulnes, der an der Sitzung teilgenommen hatte, verließ fluchtartig den Saal. Ein Aktivist warf dem Minister, der im Gedränge ins Stolpern geriet, Münzen hinterher. Nach einer Stunde konnte die Sitzung fortgesetzt werden, doch mußte sie ein zweites Mal unterbrochen werden, da es einigen Studenten gelungen war, trotz Polizeieinsatzes im Gebäude zu bleiben und die Vorgänge über eine Webcam live ins Internet zu übertragen. Unterdessen riegelte die Polizei das Gebäude mit Metallzäunen ab, um weitere Demonstranten fernzuhalten. [4]

Die Studentenvereinigung Confech zog am Donnerstag zum Abschluß des zweitägigen Generalstreiks eine positive Bilanz. Die massenhafte Beteiligung und große Unterstützung ermutige die Studenten, ihren Kampf fortzusetzen, sagte Confech-Sprecherin Camila Vallejo. Ende vergangener Woche war die Führung der Studentenbewegung auf einer Europareise zu Gesprächen mit Vertretern der Vereinten Nationen und der OECD sowie Abgeordneten des Europäischen Parlaments zusammengetroffen, um ihre Ziele darzulegen und für Unterstützung zu werben. Die chilenische Jugend konfrontiert nicht nur die nationalen Eliten und das politische Establishment mit ihrem Aufbegehren, sondern stellt ihre Kritik explizit in einen Zusammenhang mit den Umwälzungen in den arabischen Ländern und den aufbrechenden Sozialkämpfen in anderen Weltregionen.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/studium/uni-leben/2011-10/proteste-chile

[2] http://www.focus.de/politik/ausland/demonstrationen-studentenproteste-chiles-regierung-lenkt-ein_aid_676349.html

[3] http://www.stern.de/panorama/studentenproteste-in-chile-strassenschlacht-um-bildungsreform-1740284.html

[4] http://www.welt.de/politik/ausland/article13672731/Frustrierte-Studenten-stuermen-Senatsgebaeude.html

21. Oktober 2011