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MEDIEN/440: New York Times diffamiert WikiLeaks-Quelle Manning (SB)


New York Times diffamiert WikiLeaks-Quelle Manning

Psychodrama soll von Überwachungsmethoden des Polizeistaats ablenken


Für Bradley Manning, den 22jährigen Gefreiten der US-Armee, der unter Anklage steht, Quelle des berühmt-berüchtigten Videos "Collateral Murder", auf dem das Massaker einer US-Hubschrauberbesatzung an einer Gruppe Männer, darunter zwei Reuters-Reporter, auf offener Straße in Bagdad im Jahr 2007 zu sehen ist, zu sein und der auch noch unter Verdacht steht, derjenige zu sein, der WikiLeaks die 92.000 vertraulichen Dokumente des US-Geheimdienstes übermittelt hat, deren brisante Inhalte zur Lage des Krieges in Afghanistan das elektronische Enthüllungsportal am 25. Juli mit Hilfe der New York Times, des britischen Guardian und des Spiegels in Deutschland lüftete, sieht die Zukunft zappendüster aus. Im Falle einer Verurteilung droht Manning eine lebenslange Freiheitsstrafe. Wegen der anhaltenden Kontroverse um die angeblich mit seiner Hilfe in die Welt gesetzten "Afghanistan- Protolle" - im angloamerikanischen Sprachraum spricht man in diesem Zusammenhang von den "Afghanistan War Logs" - hat am 3. August Mike Rogers, Kongreßabgeordneter aus Michigan, der die Republikaner im Terrorismusausschuß des Repräsentantenhauses vertritt, die Hinrichtung Mannings wegen Geheimnisverrats gefordert.

Bei Amerikas Kriegsgegnern und Bürgerrechtlern ist Manning, der am 26. Mai an der Forward Operating Base (FOB) Hammer nahe Bagdad festgenommen, zunächst nach Kuwait zwecks Vernehmung und nach einigen Wochen dort zur Anklage in die USA gebracht wurde, natürlich ein großer Held. Deshalb kam es am 8. August vor dem Toren des US-Militärstützpunktes Quantico, Virginia, wo Manning derzeit im Einzelhaft auf seinen Prozeß wartet, zu einer Solidaritätsdemonstration, an der der langjährige CIA-Analytiker und heutige Friedensaktivist Ray McGovern den WikiLeaks-Informanten vor dem in weiten Teilen der US-Medien grassierenden Vorwurf in Schutz nahm, Amerikas Soldaten in den Rücken gefallen zu sein und deren Blut an seinen Händen zu haben. Nicht Manning, sondern die Politiker in Washington und Generäle im Pentagon seien es, die durch ihren unsinnigen, nicht gewinnbaren Krieg am Hindukusch das Leben Hunderter US-Soldaten und Tausender Afghanen und Pakistanern auf dem Gewissen hätten; dies gehe aus den "Afghanistan-Protokollen" mehr als deutlich hervor, so McGovern.

Und weil das so ist, müssen Zweifel an Mannings Ehrlichkeit und seinem Motiv zur unerlaubten Weitergabe von Geheimdienstinformationen produziert werden. Bereits Anfang Juni, in den ersten Tagen nach Bekanntgabe der Festnahme der Quelle des "Collateral-Murder"-Videos, hatte die Washington Post Manning als kleinwüchsigen, unsicheren Verlierertypen dargestellt, der aus persönlicher Verzweiflung auf die irrige Idee gekommen war, daß er durch die Weitergabe von Material des US-Militärgeheimdienstes an WikiLeaks "etwas wirklich ändern könnte". In dieselbe Kerbe schlug nun am 9. August die New York Times mit dem umfassenden Profil Mannings unter der Überschrift "Early Struggles of Soldier Charged in Leak Case".

Ginger Thompson, Autor des rührseligen Psychogramms, führt Mannings massiven Verstoß gegen die Geheimhaltungsregeln ganz auf dessen schwierige Kindheit zurück; nach der Trennung der Eltern mußte er seine Jugendjahre mit der Mutter in ihrem Heimatland Wales verbringen, wo er als einziger Amerikaner an der Schule in die Außenseiterrolle geriet; nach der Rückkehr in die USA führte seine neu entdeckte Homosexualität zu massivem Streß mit dem Vater, einem Ex-Mitglied des US-Militärgeheimdienstes. Vergeblich sucht man im NYT-Bericht nach einem Hinweis auf das, was Manning gegenüber dem Hacker Adrien Lamo, der ihn kurze Zeit später verpfeiffen sollte, zu seinen Motiven selbst sagte. Demnach haben Mißstände, über die er bei seiner Arbeit bei der Nachrichtenauswertung beim Militärgeheimdienst im Irak gestolpert ist, und die Tatsache, daß seine Vorgesetzten nichts davon wissen wollten, ihn dazu bewegt, sich an WikiLeaks zu wenden. Statt dessen wird alles mit Kindheitstraumata und fehlender Anpassung an gesellschaftliche Normen (v)erklärt. Dazu folgendes Beispiel:

In der Schule unterschied sich Bradley Manning ganz klar von den meisten seiner Altersgenossen. Ihm machte es mehr Spaß, Computerspiele zu hacken, als sie zu spielen, erklärten frühere Nachbarn. Des weiteren sagten sie, daß er für sein Alter ungewöhnlich klare Ansichten zur Politik, Religion und selbst zur Trennung von Kirche und Staat hatte.

Indem sie aus dem Fall Bradley Manning ein Psychodrama macht, kommt die New York Times erneut ihrer Funktion als inoffizielles Verlautbarungsorgan der US-Regierung nach. In der Berichterstattung über die großangelegte Veröffentlichung der "Afghanistan-Protokolle" durch die New York Times, den Guardian und den Spiegel ist fast gänzlich untergangenen, daß Amerikas "Paper of Record" nach dem Erhalt des Geheimdienstmaterials von Wikileaks ihren Washingtoner Bürochef Dean Baquet und ihre beiden Reporter Mark Mazzetti und Eric Schmitt ins Weiße Haus schickte, um mit Vertretern der Regierung Barack Obama über Möglichkeiten der Schadensbegrenzung zu sprechen. Dafür wurden die "Gray Lady" und ihre Mitarbeiter von der Obama-Regierung sehr gelobt, erklärte später Baquet selbst. Über die sonderbare Episode berichtete am 26. Juli auf der Website Salon.com Alex Pareene unter der Überschrift "The Administration 'praised' the New York Times reporters for their handling of leaked Afghan war material".

Solche Absprachen zwischen dem Weißen Haus und der New York Times, der einflußreichsten Zeitung der Welt, sind keine Seltenheit. Als 2004 Reporter James Risen herausfand, daß George W. Bush nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 die National Security Agency (NSA) mit der Überwachung des kompletten Telefon- und E-Mail-Verkehrs in den USA beauftragte und damit nicht nur gegen das 1978 unter dem Eindruck des Watergate-Skandals geschaffenen Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA), sondern gegen die US-Verfassung verstieß, reisten NYT-Herausgeber Arthur Sulzberger jun. und Chefredakteur Bill Keller extra nach Washington, um im Oval Office mit dem Präsidenten und dessen Vize Dick Cheney über das weitere publizistische Vorgehen zu beraten. Das Ergebnis dieses denkwürdigen Treffens war, daß Bushs großer NSA-Lauschangriff erst Ende 2005 enthüllt wurde. Wäre die illegale Maßnahme bereits im Sommer 2004 bekannt geworden, hätte dies Bush aller Wahrscheinlichkeit nach die Wiederwahl im November desselben Jahres gegen den Demokraten John Kerry gekostet.

Die von der New York Times betriebende Psychologisierung des Falls Bradley Manning hat auch einen anderen Zweck, nämlich von den Umständen der Festnahme des jungen "Whistleblower" in Uniform abzulenken. Es häufen sich in den letzten Tagen die Hinweise, daß die Kontaktaufnahme zwischen Manning und dem 2004 wegen illegalen Eindringens in die Server der New York Times verurteilten Lamo gar nicht so zufällig erfolgt ist, wie es bisher im überwiegenden Teil der Bericherstattung kolportiert wird. Am 1. August berichtete auf der Website der Finanzzeitschrift Forbes deren Technologiekorrespondent Andy Greenberg von einem Treffen auf einer Computermesse mit Chet Uber von der geheimnisvollen Gruppe Project Vigilant, die offenbar aus patriotisch-kommerziellen Gründen den Verkehr bei den Internet-Providern der USA nach Verdächtigem abgrast und wenn sie etwas findet, dies bei den Bundesbehörden in Washington meldet.

Laut Uber wurde Manning von Project Vigilant als mögliche Quelle für das "Collateral-Murder"-Video identifiziert, woraufhin man Lamo, der für die Gruppe als freiberufliche Analytiker arbeitet, auf ihn ansetzte. Laut dem Anwalt Glenn Greenwald, der für Salon.con den angesehenen Blog "Unclaimed Territory" schreibt, geht Project Vigilant, an dem 500 Leute beteiligt sind, von dem privaten Sicherheitsunternehmen BBHC Global, deren Führungsetage mit ehemaligen Militärs und Geheimdienstlern gespickt ist, aus. Greenwald sieht in Project Vigilant eine weitere Manifestation jener überbordenden halb staatlichen, halb privaten Sicherheitsindustrie der USA, die nach den Anschlägen 11. September 2001 unglaublich gewachsen ist und das Land aufgrund der unzähligen Methoden der elektronischen Datenerfassung immer mehr in einen Polizeistaat mit keinerlei Privatsphäre verwandelt.

10. August 2010