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MILITÄR/814: Afghanistans Mohnfelder sind Rußland ein Dorn im Auge (SB)


Moskau kritisiert Versäumnisse der NATO als Destabilisierung


Die Vereinigten Staaten maßen sich an, im Rahmen ihrer alljährlichen Zertifizierung anderen Ländern einen angemessenen oder unzulänglichen Kampf gegen Drogen zu attestieren und im Falle einer negativen Einstufung Sanktionen wie insbesondere die Stornierung von Hilfsgeldern zu verhängen. Daß es sich dabei um ein Instrument politischer Einflußnahme handelt, dem der fiktive Antidrogenkampf lediglich die Vorwandslage liefert, läßt sich anhand zahlreicher Beispiele belegen. Weder wenden die USA als weltgrößter Absatzmarkt und mithin wichtigster Motor der Drogenproduktion und Distribution dieses Bewertungsschema auf sich selbst oder andere Industrienationen an, noch erfolgt die Einschätzung nach sachgerechten Kriterien, da Verbündete häufig ohne Rüge davonkommen, während als tendentiell feindlich oder widerspenstig geltende Regierungen mit Strafmaßnahmen rechnen müssen.

Zur interessanten These, daß die USA vor allem über die Aktivitäten der CIA der weltweit wichtigste Sponsor der Drogenproduktion seien, gesellt sich die nicht leicht von der Hand zu weisende Annahme, daß das Drogenproblem überall dort eskalierte, wo sich die interventionistische Weltmachtpolitik Washingtons Bahn brach. So wurden Gelder für geheime Operationen, die in keinem Etat auftauchen durften, häufig über Drogengeschäfte beschafft, wie man auch Hilfstruppen mit solchen Mitteln finanzierte oder regionale Konflikte anheizte. Hinzu kamen der verbreitete Drogenkonsum von US-Soldaten wie auch der Transport mit Fahrzeugen und Flugzeugen der Militärs, der Verteilungswege bis nach Europa und in die USA etablierte.

Vor allem in Südostasien und Lateinamerika entwickelten die USA ihren "Antidrogenkampf" zu einem Werkzeug der Intervention, indem sie im Namen einer überstaatlichen Polizeifunktion nationale Souveränität aushebelten, Landesgrenzen ignorierten und die betreffenden Länder infiltrierten. Die Überwachung Südamerikas mit Satelliten, Spionageflugzeugen, Radarstationen und Stützpunkten wurde unter dem Vorwand, nur auf diese Weise könne man den internationalen Drogenhandel bekämpfen, massiv ausgebaut. Wie zuvor in Peru und Bolivien vernichtet man in Kolumbien Kokapflanzungen in großem Stil, obgleich der Anbau dadurch nicht etwa reduziert, sondern sogar ausgeweitet wurde. Der dort geführte Krieg richtet sich gegen die Guerilla, wofür die Regierung in Bogotá von Washington mit milliardenschwerer Militärhilfe aufgerüstet wird.

Daß der Kampf gegen die Drogenproduktion nicht ein Ziel der US-Politik ist, sondern je nach Bedarf forciert, vernachlässigt oder sogar verhindert wird, zeigt als jüngstes Beispiel die Entwicklung in Afghanistan. Traditionell das weltweit größte Anbaugebiet von Schlafmohn für die Herstellung von Opium, war dieser Erwerbszweig in den Jahren der Taliban-Herrschaft fast zum Erliegen gekommen. Heute ist das Land wieder fast alleiniger Produzent von Rohopium und hat zudem Marokko als führender Hersteller von Haschisch abgelöst. In ihrer fast zehnjährigen Kriegsführung gegen den afghanischen Widerstand haben die Besatzungsmächte den Mohnanbau überwiegend ausgeblendet, phasenweise aber auch dessen Reduzierung plötzlich zu einem wesentlichen Kriegsziel erklärt.

Diese Wankelmütigkeit erklärt sich zum einen daraus, daß die Okkupation mit dem Terrorvorwurf über ein zwar nicht weniger unglaubwürdiges, aber wirkmächtigeres Instrument zur Begründung ihrer Kriegsführung gegen die Afghanen verfügt. Die flankierende Behauptung, man ziehe auch gegen die Drogenproduktion zu Felde, wird daher nur behelfsweise instrumentalisiert, wenn man beispielsweise eine Großoffensive in einem Anbaugebiet plant und durchführt.

Heftige Kritik an dieser mindestens inkonsistenten Vorgehensweise der NATO am Hindukusch hat nun der einflußreiche Drogenzar der russischen Regierung, Viktor Iwanow, geübt. Der Veteran des desaströsen sowjetischen Engagements in Afghanistan hatte das Land kürzlich erstmals wieder besucht und brachte nach seiner Rückkehr in Moskau sein Entsetzen über die dort herrschenden Verhältnisse wie auch seinen Groll angesichts der Folgen für Rußland zum Ausdruck. Dies war sicherlich keine spontane Reaktion, da Iwanow bereits im Vorfeld der russischen Siegesparade am 9. Mai, bei der erstmals NATO-Soldaten mitmarschierten, in Brüssel für eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen Drogen geworben hatte.

Wie er der NATO in seiner Moskauer Rede vorwarf, begünstige sie durch ihre mangelhafte Bekämpfung der Drogenproduktion in Afghanistan eine drogengestützte Flutwelle der Destabilisierung, die nun durch die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien und durch Rußland rolle. Bereits im März hatte Iwanow auf einer Konferenz darauf hingewiesen, daß sich militante Islamisten und Drogenbarone verbündeten, um die Macht in den ohnehin instabilen zentralasiatischen Staaten an sich zu reißen. Allein in den letzten drei Jahren habe der Zustrom von Drogen aus Afghanistan nach Rußland um 16 Prozent zugenommen, was zu einer um sich greifenden Abhängigkeit unter der städtischen Bevölkerung führe. Daher wachse sich das Unvermögen der NATO, die zunehmende Drogenproduktion am Hindukusch einzudämmen, zu einem sicherheitspolitischen Alptraum für Rußland und seine regionalen Verbündeten aus. [1]

Genau da liegt natürlich der Hase im Pfeffer: Zwar ging Iwanow in seiner Rede nicht so weit, die NATO in diesem Zusammenhang einer gezielten Strategie der Destabilisierung zu Lasten Rußlands zu bezichtigen, die diese zweifellos im Arsenal ihrer mittel- und langfristigen strategischen Entwürfe führt. Der russische Drogenzar warf jedoch eine Reihe von Fragen auf, die kräftig an der Propaganda des US-Antidrogenkampfs kratzen. Wie könne es sein, daß Afghanistan nach fast zehn Jahren Besatzung mehr Rohopium denn je produziert, fragte Iwanow. Auch könne er nicht verstehen, warum die USA die Kokaplantagen in Kolumbien zerstören, aber in Afghanistan offenbar zögern, auf dieselbe Weise vorzugehen. Und selbst wenn man geteilter Meinung über die Vernichtung des Mohnanbaus sei, bleibe doch offen, wieso die NATO nicht die mehr als 200 riesigen Drogenlabors in den Bergen angreift, die Rauschgift von immer höherem Reinheitsgrad herstellen. Dies lasse nur den Schluß zu, daß in Afghanistan überhaupt kein Antidrogenkampf stattfindet.

Wie viele Heroinabhängige es heute in Rußland gibt, weiß niemand. Iwanow geht in seiner Schätzung von mindestens zwei Millionen aus, was einige wenige Experten für übertrieben halten, die dahinter eine Propagandakampagne vermuten. Glaubwürdiger und insbesondere von nichtstaatlichen Stellen gestützt sind indessen Zahlenangaben, die mehr oder minder weit über die offiziell eingeräumte Größenordnung hinausgehen und von bis zu sechs Millionen sprechen. Als gesichert darf jedenfalls gelten, daß der Drogentransfer aus Afghanistan über Zentralasien nach Rußland exponentiell zunimmt und folglich auch der Konsum entsprechend wächst.

In den zurückliegenden Jahren haben Rußland und die NATO ein gewisses Maß an Zusammenarbeit auf dem Feld der Drogenbekämpfung etabliert. So betreiben sie gemeinsam in der Nähe von Moskau eine Ausbildungsstätte für afghanische Drogenfahnder, die schon mehrere hundert Absolventen hervorgebracht hat. Davon abgesehen zweifelt man in Moskau jedoch an der Fähigkeit oder auch dem Willen der NATO, das Drogenproblem in dieser Weltregion zu lösen. Wie der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsausschusses der Duma, Viktor Iljuchin, skeptisch anmerkte, habe man die US-Regierung wiederholt und dringend ersucht, ihren Kampf gegen die Drogenproduktion zu intensivieren. Die Antwort sei jedoch nach wie vor, man analysiere noch die Optionen und hege die Befürchtung, daß die Bekämpfung des Mohnanbaus die Bauern in die Arme der Taliban treibe.

Man kann in der Tat davon ausgehen, daß die NATO gegenwärtig hofft, bei den afghanischen Bauern besser abzuschneiden, wenn sie ihnen nicht die Mohnernte und damit oftmals die einzige halbwegs zuverlässige Einkommensquelle wegnimmt. Auch paktieren die Besatzungsmächte mit lokalen Kriegsherren, die ihrerseits vom Drogengeschäft leben. Im Dienst des proklamierten Sieges, der nie stattfinden wird, und des Abzugs, der nur in Teilen erfolgen soll, ist die NATO im Grunde längst bereit, alle vorgehaltenen Ansprüche, die afghanische Gesellschaft zu verändern, fallenzulassen. Wichtig ist letzten Ende nur ihre dauerhafte Präsenz in dieser Weltregion, die wie ein Keil zwischen Rußland und China getrieben werden kann.

Sollten die NATO-Truppen eines Tages abziehen und in Afghanistan ein Chaos hinterlassen, ginge dies zu Lasten Rußlands und seiner Interessen in Zentralasien. Sollten sie, was wahrscheinlicher ist, nur die Hauptmacht der Streitkräfte abziehen, aber sich in ihren Stützpunkten dauerhaft festsetzen, gälte dies um so mehr. Für die russische Führung stellt diese Aussicht eine Bedrohungslage dar, da die Region destabilisiert und die Einkreisung durch die NATO komplettiert würde.

Wenn die NATO in ihrem jüngst vorgestellten Entwurf einer neuen Strategie die Zusammenarbeit mit Rußland im Munde führt, wird dies von russischer Seite zu Recht als zwiespältig charakterisiert. Zwar schlägt die international besetzte Arbeitsgruppe unter Führung der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright explizit vor, Moskau einzubeziehen, doch gehen die Vorschläge nie soweit, eine vollwertige Partnerschaft anzubieten. Daher liegt die Schlußfolgerung nahe, daß sich die NATO der Option zu bedienen hofft, Moskau durch eine partielle und befristete Kooperation solange stillzuhalten und einzubinden, bis entscheidende strategische Vorteile erlangt sind.

Die russische Regierung steht daher vor dem gewaltigen Problem, die vordringende NATO zu bremsen und womöglich durch eine wachsende Zusammenarbeit in ihrem Aggressionsdruck zu entschärfen, ohne sich dabei zu einem Vasallen erniedrigen und unterwerfen zu lassen. In Moskau muß man davon ausgehen, daß der Gegner auch im Falle Afghanistans die Drogen als Waffe benutzt, hier jedoch um mit ihrer Hilfe die zentralasiatischen Staaten zu destabilisieren, den Einfluß Rußlands zurückzudrängen und neue Interventionsvorwände zu schaffen.

Anmerkungen:

[1] Moscow furious, says US not pushing drug war in Afghanistan (19.05.10)
Christian Science Monitor

21. Mai 2010