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MILITÄR/830: NATO hat Krieg gegen Rußland nie von ihrer Agenda gestrichen (SB)


Rußland reagiert erbost auf Kriegspläne im Baltikum


Daß die Welt seit Ende des kalten Krieges unsicherer geworden ist, steht außer Frage. In erbitterter Konkurrenz um die schwindenden Ressourcen, die weniger denn je für alle reichen, ist das westliche Militärbündnis im Kielwasser der Vereinigten Staaten zu einem permanenten Feldzug aufgebrochen, um die Kriege von heute zur Positionierung für die ultimativen Schlachten von morgen zu führen. Die Einkreisung Rußlands ist bis hart an dessen Grenzen vorangeschritten, China wird von den USA unter Einbindung Südkoreas, Taiwans und Japans in die militärische Klammer genommen. Zwischen diesen beiden Gegnern in künftigen Waffengängen treibt die NATO einen Keil im Mittleren Osten mit Stoßrichtung Zentralasien voran, um einem Bündnis zwischen Moskau und Beijing strategisch zuvorzukommen.

Allen Machtzentren ist diese Konstellation natürlich bewußt, was die Eliten mit der ebenso diffizilen wie brisanten Anforderung konfrontiert, ihre künftige Überlebenssicherung zu Lasten einer Mehrheit der Menschheit nach außen und innen unter Erwirtschaftung eigener Vorteilslagen zu organisieren. Die multipolare Konstellation stellt höchste Anforderungen an das militärische, politische, ökonomische und ideologische Geschick, vielgleisig und doppelzüngig mehrere Gegner zu täuschen und in die Defensive zu treiben, die ihrerseits durchaus verwandte Absichten der bestmöglichen Positionierung im Raubgefüge verfolgen.

Das neuformulierte Strategiekonzept der NATO hebt explizit auf die Einbindung Rußlands ab, die Moskau in die Ketten einer partiell gemeinsamen Sicherheitsarchitektur legen soll, ohne ihm jemals die volle Partnerschaft zu gewähren. Im Kreml weiß man nur zu gut, wie riskant diese Lage im Schwitzkasten zu werden droht, weshalb man einerseits in die dargebotene Hand einschlagen will, aber andererseits die hinter dem Rücken geballte Faust nicht vergißt. Um diesen Prozeß der Annäherung, die jederzeit in einen Würgegriff übergehen kann, trotz naturgemäß beiderseits gespanntem Mißtrauen nicht scheitern zu lassen, bedarf es machiavellistischen Geschicks, das die Palette der Attacken, Finten und Konter nicht nur ausschöpft, sondern unablässig perfektioniert.

In dieser Gemengelage enthüllt WikiLeaks nichts, was nicht nur den Strategen beider Lager bekannt ist, sondern auch bei kritischem Interesse längst entschlüsselt werden konnte. Das schließt natürlich nicht aus, daß sich eine an der Nase herumgeführte Öffentlichkeit ernsthaft überrascht die Augen reibt, doch wäre es andererseits naiv, den vermeintlichen Eklat nicht augenblicklich auf seine Indienstnahme für das ungebrochene Armdrücken abzuklopfen.

Aus Perspektive westeuropäischer Regierungen sind die Beziehungen zu Rußland durchaus zwiespältig, da man sich von einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit Vorteile verspricht und in sicherheitspolitischer Hinsicht einer Deeskalation nicht gänzlich abgeneigt ist. Ohne mit Washington absolut konform zu gehen, verschreibt man sich jedoch der nordatlantischen Stoßrichtung, da man sich an der Seite des stärksten Räubers am besten aufgehoben fühlt und im essentiellen Interesse an der eigenen Positionierung in diesem Raubzug keinesfalls abgehängt werden will. Moskau versucht diese Widerspruchslage zu eigenen Gunsten auszunutzen und hat den Westeuropäern wiederholt Avancen vertiefter Kooperation gemacht.

In diesem Kontext war die 2004 erfolgte Aufnahme der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland in die NATO zunächst ein derart heißes Eisen, daß man um der Beziehungen zu Rußland willen lange darauf verzichtete, für die drei Ostsee-Republiken sogenannte Contingency-Pläne aufzustellen. Während für alle anderen NATO-Staaten derartige Pläne für den "Verteidigungsfall", also einen militärisch ausgetragenen Konflikt mit Rußland vorliegen, blieben diese Neumitglieder zunächst davon ausgespart. Die Regierungen in Vilnius, Riga und Tallinn sahen ihre Sicherheitsinteressen unzulänglich gewürdigt und forderten insbesondere nach dem georgischen Überfall auf Südossetien und der darauf folgenden russischen Intervention im August 2008 "konkrete Aktionen zur Erhöhung der militärischen Bereitschaft". [1]

Daraus resultierten kontroverse Diskussionen in der NATO, in denen sich offenbar mehrere Mitglieder, darunter Deutschland, Frankreich und Italien, zunächst gegen eine Contingency-Planung für die baltischen Staaten aussprachen. Der Konflikt wurde schließlich in Gesprächen zwischen Washington und Berlin beigelegt, worauf Deutschland sogar die Initiative bei einer Neuregelung übernahm, die im Januar 2010 vom NATO-Militärkomitee formal beschlossen wurde. Wie aus jüngst veröffentlichten Depeschen hervorgeht, wurde der bereits bestehende Contingency-Plan für Polen auf Vorschlag der Bundesregierung auf die baltischen Staaten ausgeweitet. Nach Angaben des britischen "Guardian" sollen dafür neun Divisionen aus den USA, Deutschland, Großbritannien und Polen für Kämpfe in der Region bereitgestellt werden. Seegestützte Angriffskräfte sowie britische und US-amerikanische Kriegsschiffe können von nordpolnischen und deutschen Häfen aus operieren.

WikiLeaks veröffentlichte in diesem Zusammenhang unter anderem ein Schreiben, in dem US-Außenministerin Hillary Clinton am 22. Januar 2010 alle Auslandsvertretungen der USA anweist, diese Planung unter dem Radar öffentlicher Debatten zu halten. Sollten sich Nachfragen dennoch nicht vermeiden lassen, laute die Antwort, die NATO bereite sich auf künftige "Notfälle" vor, was sich jedoch nicht gegen irgendein anderes Land richte. Nun ist dank WikiLeaks und des Filterprozesses der beteiligten Medien die Katze des Affronts aus dem Sack, da sich niemand mehr dumm stellen und behaupten kann, die NATO habe den künftigen Krieg gegen Rußland von ihrer Tagesordnung gestrichen.

Wie der russische Außenminister Sergej Lawrow in Moskau verärgert erklärte, habe Rußland "ernste Fragen" an die NATO. Die Regierung in Moskau wolle wissen, ob das Nordatlantische Bündnis bei seinen jüngsten Kooperationsvereinbarungen mit Rußland aufrichtig gewesen sei. [2] Auch Rußlands NATO-Botschafter Dmitri Rogosin nahm kein Blatt vor den Mund: "Wir sind tief enttäuscht: Offiziell verbreitet die NATO Friedensrhetorik, aber in Wirklichkeit behandelt sie Rußland wie einen Feind. Die NATO sollte diese Pläne sofort zurückziehen. Sonst haben die Beschlüsse von Lissabon keinen Wert mehr." Rogosin bezichtigte die Allianz de facto der Lüge: "Unser Volk hat sich von den Kommunisten befreit, weil sie uns ins Gesicht gelogen haben. Wir werden nicht zulassen, daß uns irgend jemand wieder ins Gesicht lügt." Dies gelte insbesondere für die Abwehrraketen, welche die USA zu Jahresanfang in Polen aufgestellt hatten. "Diese Raketen richten sich offensichtlich nicht gegen den Iran, sondern gegen Rußland", nannte Rogosin das Naheliegende, aber westlicherseits stets Geleugnete beim Namen. [3]

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verweigerte kurzerhand eine Stellungnahme zur fraglichen WikiLeaks-Veröffentlichung und erklärte, die NATO betrachte Rußland nicht als Gegner und wolle eine "richtige strategische Partnerschaft" aufbauen. Beim NATO-Rußland-Gipfel in Brüssel sei ein "positiver Kooperationsgeist" zu spüren gewesen, den man nicht preisgeben wolle. Eine Sprecherin des Bündnisses zog sich auf dieselbe Sprachregelung zurück und behauptete, daß "die NATO und Rußland keine Gefahr füreinander darstellen". Allerdings werde die Allianz stets über Pläne zum Schutz aller Verbündeten verfügen, da dies der Kern ihrer gemeinsamen Verteidigungsaufgabe sei.

Auf ihrem Gipfel in Lissabon im November hatten die NATO und Rußland ihre gegenseitige Annäherung vereinbart und diese gar zum "Ende des kalten Kriegs" hochstilisiert, obgleich dieser doch angeblich bereits vor zwanzig Jahren beendet war. Daß die aktuelle Enthüllung diverser Depeschen durch WikiLeaks nichts gänzlich Unbekanntes zutage gefördert hat, belegt die russische Nachrichtenagentur Interfax. Sie zitiert eine "militärisch-diplomatische" Quelle mit dem Hinweis, daß man über diese Entwicklungen in der NATO Bescheid gewußt habe. [4] Von einem Geheimnisverrat durch WikiLeaks kann demnach keine Rede sein, auch wenn dies der konsensbeflissene Tenor der meisten hiesigen Medien ist. Ob es sich bei der Enthüllung tatsächlich um einen Stich ins Wespennest handelt, der einer breiteren Öffentlichkeit die strategischen Planungen der NATO vor Augen führt, steht und fällt mit einer kritischen Bewertung der Ziele des nordatlantischen Militärbündnisses, wofür die hitzige Kontroverse um WikiLeaks allerdings einen Anlaß bietet.

Anmerkungen:

[1] Nur für den Notfall. NATO-Kriegsvorbereitungen für den Ostseeraum. Pläne richten sich angeblich nicht gegen Rußland (08.12.10)
junge Welt

[2] Lawrow fordert Erklärungen zu Baltikum-Schutzplan der Nato. Thema: WikiLeaks veröffentlicht Geheimdokumente des US-Außenamtes (09.12.10)
http://de.rian.ru/politics/20101209/257850650.html

[3] Wikileaks-Enthüllung. Nato-Plan ärgert Russland (08.12.10)
http://www.ftd.de/politik/international/:wikileaks-enthuellung-nato-plan-aergert-russland/50203108.html

[4] Wikileaks-Veröffentlichungen. Nato billigte Verteidigungsplan gegen Russland (07.12.10)
http://www.faz.net/s/Rub594835B672714A1DB1A121534F010EE1/Doc~E6EE479A5263A44A7B5FA60C062F2614F~ATpl~Ecommon~Scontent.html

9. Dezember 2010